Fraunhofer-IML-Leiterin: „Für mich gibt es keinen besseren Arbeitsplatz“

Vor fast einem Jahr übernahm Prof. Alice Kirchheim die Leitung des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik in Dortmund. Im Interview mit der DVZ spricht sie über ihre Pläne in der Forschung und eine neue Ausrichtung des Instituts.

Prof. Alice Kirchheim: „Statt rein technologiegetrieben zu denken, wollen wir zuerst den Markt­bedarf analysieren.“ (Foto: Fraunhofer IML)

DVZ: Frau Prof. Kirchheim, wie haben Sie Ihre ersten zehn Monate an der Spitze des Instituts erlebt?

Prof. Alice Kirchheim: Es waren zehn intensive und zugleich großartige Monate. Die Weihnachtspause bot Gelegenheit, innezuhalten und das Erreichte zu reflektieren. Seit Januar fühle ich mich vollständig angekommen und genieße meine Aufgabe sehr. Unser Anspruch „100 Prozent Logistik“ prägt nicht nur meine Arbeit, sondern auch die meiner Kollegen Michael Henke und Uwe Clausen sowie der vielen jungen Talente hier am Institut. Gemeinsam gestalten wir die Zukunft der Logistik – und für mich gibt es keinen besseren Arbeitsplatz.

Ihr Vorgänger, Michael ten Hompel, ist in der Logistikbranche eine bekannte Persönlichkeit und war auf vielen Branchenveranstaltungen präsent. Wie nehmen Sie die Rolle als seine Nachfolgerin wahr – eher als Bürde oder als Motivation?

Für mich ist es eine große Freude. Schon nach meinem Ruf an die TU Dortmund habe ich den Kontakt zu Michael ten Hompel intensiviert, und wir pflegen bis heute ein enges, freundschaftliches Verhältnis. Die Übergangsphase verlief reibungslos und wertschätzend. Ich profitiere von seinen Erfahrungen, während ich mit meiner jüngeren, frischen Perspektive neue Impulse in die Logistik bringe. Es fühlt sich rundum gut an.

Gibt es konkrete Bereiche, in denen Sie als Institutsleiterin andere Schwerpunkte setzen oder Dinge anders angehen als Ihr Vorgänger?

Ja, es gibt neue Akzente. Inhaltlich ticken wir zwar ähnlich, aber als Persönlichkeiten sind wir sehr unterschiedlich – und das beeinflusst natürlich auch die Art, wie ich das Institut leite. Nach über 20 Jahren unter Michael ten Hompel hat mein Führungsstil intern für Veränderungen gesorgt und bestehende Strukturen aufgebrochen. Nach zehn Monaten habe ich den Eindruck, dass wir nun ein gutes Arbeitsniveau erreicht haben und als Team gut eingespielt sind.

Die Hauptforschungsschwerpunkte des IML liegen in der Intralogistik. Welche Vision verfolgen Sie in diesem Bereich und welche Entwicklungen wollen Sie verstärkt vorantreiben?

Michael ten Hompel hat ja regelmäßig visionäre Konzepte für die Zukunft der Logistik entwickelt. Seine letzte große Vision war das digitale Kontinuum, in dem sich Hardware- und Softwarewelten zu neuen, intelligenten Systemen verbinden, die in Echtzeit agieren und Produktlebenszyklen beschleunigen. Das war eine technologische Perspektive. Heute sind wir an dem Punkt, diese Vision in die Praxis umzusetzen – in Form hochdynamischer, flexibler und skalierbarer Logistiksysteme. Ein zentraler Aspekt ist die Echtzeitkommunikation, die insbesondere den Einsatz mobiler Robotik ermöglicht. Hier knüpfen wir an bestehende Entwicklungen an und arbeiten an der nächsten Generation intelligenter Logistiksysteme. Dabei ist unsere Forschung stark anwendungsorientiert.

Wie gelangen die Entwicklungen dann in die Praxis?

Ein aktuelles Beispiel ist der Evobot – ein mobiler Roboter mit zwei Beinen auf Rädern, der sowohl Transport- als auch Handhabungsfunktionen übernimmt. In einer Entwicklungskooperation mit dem Palettensystemanbieter Chep arbeiten wir an der Automatisierung der Fabrik der Zukunft im Bereich des Palettenhandlings. Neben der Automatisierung von Transportprozessen sehe ich großes Potenzial bei manuellen Aufgaben in der Logistik – insbesondere in der Kommissionierung. Wer heute ein Lager betritt, sieht noch viele Menschen, die Handhabungsaufgaben übernehmen. In diesem Bereich wird sich in den kommenden Jahren viel verändern.

Denken Sie dabei auch an humanoide Roboter, die mit zerbrechlichen Gegenständen umgehen können?

Der Einsatz humanoider Roboter in der Logistik ist ein wichtiges Thema, das wir auch auf der Logimat diskutieren werden. Dort gibt es gleich am ersten Messetag ein Forum mit dem Titel „Humanoide Roboter im Lager – Hype oder Realität?“. Grundsätzlich müssen wir erst klären, welche Arbeitsräume in einem Lager der Zukunft bestehen und welche Robotertypen dort wirklich gebraucht werden. Heute sind Logistikprozesse auf den Menschen ausgerichtet, weshalb humanoide Roboter naheliegend erscheinen. Aber die Frage ist: Muss das Lager der Zukunft weiterhin auf menschliche Arbeitsweisen ausgerichtet sein? Oder können spezialisierte Roboter mit kleinerem Platzbedarf, aber höherer Beweglichkeit und spezifischen Fähigkeiten wirtschaftlich sinnvoller sein? Ich tendiere zur zweiten Option.

Warum?

Meine Vision für die Kommissionierung ist mehr Flexibilität. Warum sollten wir weiterhin riesige Mengen an Behältern über feste Fördertechnik zu Kommissionierarbeitsplätzen transportieren, wenn es künftig flexiblere Automatisierungslösungen gibt? Beispielsweise könnten autonome mobile Roboter Waren flexibel an Orten übergeben, die in Echtzeit berechnet werden. Stellen Sie sich ein Lager mit einem Kompaktlagerbereich vor: Mobile Roboter entnehmen dort Kisten und bewegen sich frei auf einer Fläche. Die Übergabe erfolgt dynamisch an wechselnden Treffpunkten, an denen die Roboter sich synchronisieren. So entsteht ein flexibles System ohne starre Fördertechnik. Lager gibt es dann natürlich noch, aber auf der Kommissionierfläche ist alles beweglich. Dafür fehlen heute noch geeignete Handhabungssysteme und Steuerungsmechanismen, aber genau daran arbeiten wir in der Forschung.

Zielen Sie dabei eher auf die Handels- oder Industrielogistik?

Daran scheiden sich aktuell die Geister – und genau das macht es so spannend. Wir haben dazu ein großes internes Forschungsprojekt gestartet, das von der Fraunhofer-Gesellschaft gefördert wird: die „Initiative für moderne Produktentwicklung und Umsetzung in Logistiksystemen“. Unser Ziel ist es, künftige Logistiksysteme innovativer zu entwickeln. Statt rein technologiegetrieben zu denken, wollen wir zuerst den Marktbedarf analysieren und darauf aufbauend gezielte Vorentwicklungen starten. Das neue Kommissionierprinzip dient uns als Beispiel, um diesen Ansatz in der Praxis zu erproben.

Klingt so, als würde auch eine strategische Neuausrichtung innerhalb von Fraunhofer dahinterstehen.

Ja, genau. Jede neue Institutsleitung erhält Berufungsmittel, die strategisch eingesetzt werden können. Wir haben uns bewusst dafür entschieden, die Transformation innerhalb des Instituts aktiv zu gestalten – hin zu einer kollaborativen Vorentwicklung, die sich stärker an aktuellen Marktentwicklungen orientiert. Ingenieure neigen dazu, sehr technologiegetrieben zu denken. In der anwendungsorientierten Forschung ist es aber genauso wichtig, den Markt und seine Bedarfe mitzudenken. Unsere Initiative verfolgt genau diesen Ansatz. Im Laufe der Zeit hat es am Fraunhofer IML viele Entwicklungen gegeben, aber nicht alle haben es tatsächlich in den Markt geschafft. Das ist teilweise sehr schade.

Wie zum Beispiel der Traction Gripper, ein Greifgerät mit Riemen zur Entladung von Stückgut, das 2004 auf der Hannover Messe vorgestellt wurde?

Ja, das ist genau so ein Fall: Ingenieure hatten eine technisch beeindruckende Idee, aber das System hat es nicht wirklich in den Markt geschafft. Genau hier setzt unser Ansatz an – Innovationen nicht nur technologisch zu denken, sondern von Beginn an mit Blick auf ihre praktische Marktfähigkeit zu entwickeln.

Gehen die Enterprise Labs auch in diese Richtung? Schließlich verknüpfen sie Forschung, Entwicklung und Praxis. Da bringen doch vermutlich die Unternehmen frühzeitig eine wirtschaftliche Perspektive ein und melden im Zweifel Bedenken an innovativen Ansätzen an.

Die Enterprise Labs sind strategische Forschungskooperationen zwischen Unternehmen und uns, aber die Unternehmen legen nicht detailliert fest, wie die Forschung abläuft. Es gibt Labs mit kürzeren, anwendungsnahen Projekten, aber auch langfristige Kooperationen – wie etwa beim Evobot mit Chep. Hier geht es konkret darum, den Evobot in die Produktion zu bringen. Das Ziel der Enterprise Labs ist es, anwendungsorientierte Forschung direkt in den operativen Betrieb zu überführen. Wirtschaftlichkeit spielt dabei natürlich eine Rolle, aber nicht im Sinne einer sofortigen Rentabilitätsrechnung. Vielmehr sollen Innovationen mit langfristiger Perspektive marktfähig gemacht werden.

Lösungen wie der Evobot erfordern eine größere Stückzahl in der Produktion. Gibt es bereits ein Unternehmen, das bereit ist, in die Produktion einer größeren Stückzahl zu investieren?

Wir arbeiten daran und führen Gespräche mit einem Partner über die Industrialisierung des Evobots. Das Ziel ist, in eine spezifische Branche oder ein Anwendungsszenario zu investieren und den Evobot in die industrielle Serienfertigung zu bringen. Wir sind überzeugt, dass der Evobot eine wirtschaftlich sinnvolle Lösung ist. Anders als humanoide Roboter ist er technologisch weniger komplex und kann deshalb schneller und effizienter in die Praxis überführt werden.

Wer ist denn der potenzielle Partner?

Das kann ich noch nicht sagen – aber vielleicht auf der Logimat.

Künstliche Intelligenz ist derzeit eines der dominierenden Themen – auch in der Intralogistik. Wie bewerten Sie die Entwicklung und welchen Stellenwert wird KI künftig in Ihrem Bereich haben?

Wir sind in einer starken Ausgangsposition, weil Michael ten Hompel die Bedeutung von KI früh erkannt hat. In Dortmund sind wir sowohl mit dem Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen als auch mit dem Fraunhofer IML Partner im Lamarr-Institut für Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz. Dort arbeiten wir eng mit dem Fraunhofer IAIS und der Universität Bonn zusammen. Unser Fokus liegt nicht auf der Entwicklung neuer neuronaler Netze oder generativer KI-Modelle, sondern auf der Anwendung bestehender Systeme in der Logistik. Durch unsere frühzeitige Einbindung haben wir einen guten Zugang zu KI-Technologien und können sie gezielt auf logistische Prozesse anpassen. KI wird die Welt grundlegend verändern – und generative KI wird in vielen Bereichen disruptiv wirken. Ich bin überzeugt, dass diese Disruption bereits begonnen hat.

Wo und wie verbessert KI die Intralogistik?

KI wirkt auf mehreren Ebenen. Viele kennen sie vor allem als reine Softwarelösung. Doch wenn KI in Hardware integriert wird – also Embodied AI, wenn Hardware und Gehirn zusammenkommen –, dann entsteht etwas völlig Neues. Das ist technisch deutlich komplexer als reine Softwareentwicklung, eröffnet aber enorme Möglichkeiten. Ein Beispiel ist die Steuerung autonomer mobiler Roboter (AMR). KI-gestützte Navigation ermöglicht es diesen Systemen, Hindernissen selbstständig auszuweichen. Solche Anwendungen sind bereits in der Praxis angekommen und werden zunehmend in Logistikprozessen eingesetzt.

Ende letzten Jahres hat das Fraunhofer IAIS im Rahmen des Projekts „Open GPT-X“ das Sprachmodell Teuken 7B entwickelt. Wird Ihr Institut mit diesem Modell arbeiten und Anwendungen für die Intralogistik entwickeln?

Unser Ziel ist es, gemeinsam branchenspezifische generative KI für die Logistik der Zukunft zu entwickeln – und Teuken 7B spielt dabei eine zentrale Rolle. Ich bin aktiv auf der Suche nach innovativen Unternehmen, die sich an diesem Entwicklungsprozess beteiligen möchten.

Wer könnte das sein?

Ich komme aus der Welt der Systemintegratoren, und genau dort sehe ich großes Potenzial. Viele Anwendungen in diesem Bereich haben mit unstrukturierten Daten zu tun – sei es im Angebotswesen oder bei der Planung logistischer Systeme. Eine meiner Visionen ist es, generative KI zu nutzen, um komplexe Angebotsprozesse zu verkürzen. Dafür brauchen wir Unternehmen, die Daten bereitstellen – sie müssen nicht perfekt strukturiert sein, aber ihre Aufbereitung ist essenziell. Denn nur wenn wir qualitativ hochwertige Daten in eine KI einspeisen, erhalten wir auch sinnvolle Ergebnisse. Unser Institut hat die Kompetenz, diese Daten zu strukturieren, mit Wissen zu verknüpfen und für generative KI nutzbar zu machen. Neben Systemintegratoren sehe ich auch großes Potenzial im Speditionswesen, insbesondere in der Disposition. Dort wird heute noch stark auf menschliches Expertenwissen gesetzt – generative KI könnte diesen Bereich revolutionieren. Fraunhofer IAIS und IML arbeiten im Bereich generative KI mit Dachser zusammen.

Prof. Alice Kirchheim

Die 47-Jährige studierte Informatik an der TU Hamburg-Harburg (2000–2006) und promovierte 2010 an der Universität Bremen. Nach Tätigkeiten in Forschung, Beratung und Industrie – unter anderem bei Still und Dematic – wurde sie 2019 Professorin an der Hochschule Aalen, wechselte später an die Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg und übernahm im April 2024 den Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen an der TU Dortmund. Zugleich ist Prof. Kirchheim Mitglied der dreiköpfigen Leitung des Fraunhofer-Instituts Materialfluss und Logistik in Dortmund. Die Wissenschaftlerin ist spezialisiert auf Automatisierung, Digitalisierung und KI in der Logistik.

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