China-Taiwan-Konflikt: Szenarien einer möglichen Eskalation

Seit Mittwoch vergangener Woche probt Taiwan den Ernstfall. Mit der alljährlichen Militärübung „Han Kuang“ spielt die Insel die Verteidigung gegen eine mögliche Invasion Chinas durch. Dabei werden Waffen wie Kampfpanzer, Drohnen und Mehrfachraketenwerfer getestet. Die Zivilbevölkerung und rund 22.000 Reservisten sind ebenfalls an der Übung beteiligt. Dauerte sie in den vergangenen Jahren fünf Tage, so ist sie nun auf zehn angesetzt. Dies ist eine Antwort auf vorangegangene chinesische Manöver, deren Intensität ebenfalls zunimmt.
Bereits Anfang April führte China eine zweitägige Militärübung im mittleren und südlichen Teil der Taiwanstraße durch. Das Manöver „Strait Thunder 2025B“ wurde vom chinesischen Militär und Strafverfolgungsbehörden abgehalten. China simulierte laut eigenen Angaben, wie es Taiwans Energieinfrastruktur lahmlegt und die Insel blockiert. Dabei wurden auch Raketen abgefeuert, die allerdings im Meer landeten. Der Name lässt vermuten, dass in diesem Jahr eine weitere Militärübung folgt.
Im Februar wurde zum wiederholten Mal ein Unterseekabel Taiwans beschädigt, welches kritisch für die Telekommunikation der Insel ist. Obwohl Peking den Verdacht zurückweist, steht im Raum, dass es sich um einen Sabotageangriff Chinas handelt.
Eine Intensivierung des Konflikts ist für die globale Wirtschaft besorgniserregend, denn Taiwan ist aus zwei Gründen eine besonders kritische Stelle für den Welthandel: Erstens ist die Taiwanstraße, welche die Insel von Festlandchina trennt, eine zentrale Handelsroute zwischen Nordasien und den Wirtschaftsräumen in Südostasien, Europa und Amerika. Laut dem Center for Strategic and International Studies (CSIS) passierten allein im Jahr 2022 Waren im Wert von 2,45 Billionen US-Dollar – mehr als ein Fünftel des weltweiten Seehandels – die Engstelle, die an ihrer schmalsten Stelle nur 130 Kilometer misst.
Und zweitens besitzt Taiwan eine der leistungsstärksten und hochentwickeltsten Chip- und Halbleiterindustrien der Welt. Taiwanische Unternehmen wie der Global Player TSMC produzieren laut Halbleiterweltverband SIA rund 60 Prozent aller Halbleiter und 90 Prozent der fortschrittlichsten Chips weltweit.
Eine Eskalation des Taiwan-Konflikts hätte immense Auswirkungen auf globale Lieferketten und würde den Welthandel gehörig durcheinanderwirbeln. Außerdem stünden die USA aller Voraussicht nach an der Seite Taiwans und würden gegebenenfalls militärisch eingreifen, um die Insel zu verteidigen. Das hätte einen großen Konflikt zwischen zwei Weltmächten zur Folge.
Wie ein Angriff Chinas ablaufen könnte
Laut Politikexperten wendet China seit längerem eine Zermürbungsstrategie auf Taiwan an – man spricht international von der „Anakonda-Taktik“. Dabei wird durch militärische Drohgebärden, das Abwerben von talentierten Kräften sowie Desinformationskampagnen Verunsicherung geschürt. Ökonomische Zwangsmaßnahmen sowie Millionen täglicher Cyberangriffe gehören ebenfalls dazu. Sogenannte Grauzonen-Aktivitäten, die nicht als militärische Operation eingestuft werden können, aber trotzdem Taiwans Sicherheit gefährden – wie die Beschädigung von Unterseekabeln – spielen dabei eine große Rolle. China erhöht so sukzessive den Druck auf die Insel und ihre Bevölkerung.
Im schlimmsten Fall bleibt es aber nicht bei der „Anakonda-Taktik“: Eine plötzliche Offensive Chinas ist nicht auszuschließen. Mit dem Anti-Sezessions-Gesetz, welches 2005 verabschiedet wurde, hat China sich selbst eine Rechtsgrundlage geschaffen, um die Vereinigung mit Taiwan durch Zwangsmaßnahmen und militärische Mittel zu erzwingen.
Wissenschaftler des China Power Projects am CSIS haben Szenarien eines aktiven Angriffs auf Taiwan durch China erarbeitet. In der 2024 veröffentlichten Studie wird zwischen einer Quarantäne und einer Blockade der Insel unterschieden.
Die Experten des CSIS halten eine Quarantäne der Insel für das wahrscheinlichste Szenario. Allerdings wurde bei der Militärübung im April eine Blockade mit Kriegsschiffen und Luftwaffe simuliert – China zeigt also, dass es in der Lage wäre, eine solche Aktion durchzusetzen.
Wahlweise könnte China nur den Hafen Kaohsiung abschirmen oder aber die komplette Insel. Kaohsiung, der größte Hafen der Insel, ist nach Umschlagvolumen aktuell auf dem 18. Rang der größten Containerhäfen weltweit. Dort wurden 2024 mit insgesamt 9,2 Millionen TEU etwa 66 Prozent des gesamten Containerverkehrs des Landes abgewickelt. Taiwan hat als Insel nur begrenzte natürliche Ressourcen und ist stark von dem Import von Gütern, besonders ausländischen Energielieferungen, abhängig. Die Dauer der Quarantäne könnte je nach der von Peking gewünschten Wirkung erheblich verlängert oder verkürzt werden. Die Insel importiert laut CSIS etwa 97 Prozent ihrer Energie. Eine Einschränkung der Einfuhr von Erdöl, Erdgas und Kohle könnte zu einem allmählichen Zusammenbruch der Stromversorgung auf der Insel führen. Dies gilt insbesondere jetzt, da Taiwan im Mai seinen Atomausstieg vollzogen hat
Das Ziel einer maritimen Quarantäne wäre, dass mindestens 75 Prozent der Schifffahrtsunternehmen den von China auferlegten Regeln gehorchen. Es ginge nicht darum, Taiwan vollständig von der Welt abzuschotten, sondern Chinas Kontrolle über Taiwan durchzusetzen, indem die Bedingungen für den Verkehr zu und von der Insel festgelegt werden. Hielten ausländische Akteure die Quarantäne weitgehend ein, würde dies Chinas Macht stärken. Die Studie betont zudem, dass einige der neuen von China durchgesetzten Regeln möglicherweise auch nach der Quarantäne bestehen bleiben könnten, wodurch sich ein „New Normal“ etablieren würde.
Einsatz von Militär
Ein heftigeres Szenario ist eine Seeblockade durch das chinesische Militär und die Strafverfolgungskräfte, bei der entweder nur die östliche Hälfte oder aber die komplette Taiwanstraße blockiert würde. Das CSIS unterscheidet dabei zwischen drei verschiedenen Arten der Blockade (siehe Infokasten). Durch den Einsatz des Militärs könnte eine Blockade zum Krieg führen. Die Versorgung der Insel durch Verbündete wie die USA wäre indes wegen der geografischen Lage logistisch äußerst kompliziert.
Doch es gibt ein großes Risiko für China: Die USA könnten die Straße von Malakka zwischen Malaysia und Indonesien sperren. Etwa 60 Prozent des chinesischen Handelsvolumens und rund 80 Prozent der chinesischen Ölimporte werden durch diese Meeresenge transportiert. Das macht sie zu einer wichtigen Route für den Energiebedarf des Landes. Allerdings analysierte die U.S.-China Economic and Security Review Commission in einem Bericht, dass Chinas Fähigkeit, günstige fossile Brennstoffe auf dem Landweg aus Russland zu beziehen, das Land weniger anfällig für eine Blockade seiner Ölimporte durch die Straße von Malakka macht.
Konsequenzen für den Asien-Handel
Im Falle einer Blockade könnte ein Teil oder sogar die gesamte Taiwanstraße für den Verkehr gesperrt werden. Bei einer Quarantäne gäbe es zwar keine großen Probleme bezüglich der Meeresenge, aber der Warenverkehr aus, nach und über Taiwan wäre betroffen. Laut Efficio Consulting würde eine Unterbrechung der taiwanischen Halbleiterlieferkette zu einem geschätzten weltweiten Verlust von 500 Milliarden Dollar für Elektronikhersteller führen, die auf diese Lieferungen angewiesen sind. Besonders die Automobilindustrie hätte bei einem Mangel an Halbleitern mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Laut einer aktuellen Studie der Managementberatung Hórvath stammen 92 Prozent der Halbleiter für die Automobilproduktion aus Taiwan.
Eine Eskalation des Konflikts würde auch kleinere asiatische Volkswirtschaften wie Malaysia, die Philippinen, Singapur und Vietnam schwer treffen. Diese Länder sind auf taiwanische Chips angewiesen, da sie Elektronikprodukte und andere Industriegüter herstellen. Ein Ausfall dieser Lieferungen würde ihre Exportindustrien direkt treffen.
Die taiwanischen Reedereien Evergreen und Yang Ming wären von einer Eskalation des Konflikts sicherlich stark betroffen. Evergreen belegt derzeit Platz 7 der größten Container-Carrier weltweit, mit 5,7 Prozent Marktanteil gemessen an der Kapazität. Yang Ming liegt mit einem Marktanteil von 2,2 Prozent auf Platz 10.
Ausweichrouten
Im Falle einer Sperrung der Taiwanstraße würde eine der wichtigsten Routen des globalen Seeverkehrs massiv beeinträchtigt. Zwar gibt es Alternativen, bei allen müssten Reedereien aber mit längeren Transitzeiten und deutlich erhöhten Betriebskosten rechnen. Darüber hinaus ist etwa die Route entlang der Philippinen anfälliger für Taifune und Stürme. Der Weg über das Ostchinesische Meer verläuft durch von China beanspruchte Gewässer. Die Straße von Malakka ist bereits sehr stark frequentiert, wodurch weitere Wartezeiten entstehen könnten. Außerdem gibt es in den dortigen Gewässern Piraterie. Die Kosten für die Umleitung des gesamten Verkehrs durch die Straße von Malakka schätzt das Mercatus Center auf 279 Millionen Dollar pro Monat (bei Umleitung über Indonesien) und 2,8 Milliarden Dollar (bei Umleitung über Australien).
Den höchsten Preis im Falle einer Invasion müssten indes die Taiwanesen selbst zahlen und werden dies womöglich auch tun müssen. Denn China hat sich vorgenommen, bis zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik 2049 eine Weltmacht zu sein. Viele Experten glauben daher, dass spätestens dann Taiwan mit Festland-China vereinigt sein soll. Zugleich lehnen zwei Drittel der Taiwanesen die chinesische Identität ab. (sr)