Gastbeitrag: Das „New Normal“ der Logistik
Endlich wieder Land in Sicht! Wöchentlich werden mehr und mehr Lockerungen verabschiedet. Deutschland befindet sich gefühlt zurück auf dem Weg in die Normalität. Allerdings wird es – das steht schon fest – ein „New Normal“ sein. Doch wie sollten sich Logistiker und Industrie positionieren, um die neuen Konsum- und Markttrends nach Covid-19 zu ihrem Vorteil zu nutzen? Dazu drei Thesen:
1. Der stationäre Vertrieb verliert an Bedeutung
Das Corona-Virus hat für viele das Home-Office zum neuen Hauptquartier und damit Kundenbesuche fast unmöglich gemacht. Der Logistikbranche, aber beispielsweise auch dem Maschinenbau hat dies mehr zugesetzt als anderen „digitaleren“ Sektoren wie der Softwarebranche. Denn Logistik-Vertriebler waren es gewohnt, pro Monat viele tausend Kilometer zu fahren und an regelmäßigen Meetings teilzunehmen – nicht über Zoom oder Teams, sondern persönlich und vor Ort.
In der Hochphase der Corona-Krise mussten sie sich nun mit 0 km und 100 Prozent Heimarbeit abfinden und gelangten vielfach zu der Erkenntnis: „Von Zuhause aus geht es ja auch.“ Die Frage, ob stationäre Vertriebsteams im bisherigen Umfang überhaupt noch notwendig sind, ist daher mehr als berechtigt. Infolgedessen ist zu erwarten, dass Vertriebsorganisationen ausgedünnt und gewisse Kundengruppen von einem virtuellen Verkaufsteam betreut werden.
Nur: Wie kann das funktionieren? High Performance-Vertriebsorganisationen sind sich des Paretoprinzips bewusst und wenden dieses vor allem bei der Teamstärke konsequent an: 80 bis 90 Prozent der Umsätze werden oft von weniger als 20 Prozent der verantwortlichen Vertriebler oder Key Accounter erwirtschaftet. Diese Kunden müssen nach wie vor unbedingt persönlich betreut werden. Der Rest sollte auf sein Entwicklungspotenzial hin überprüft werden. Ist dieses überschaubar, müssen die Kunden nicht mehr zwingend persönlich betreut werden, sondern könnten aus einem Büro heraus virtuell betreut werden.
2. Weitsichtige Unternehmer starten gerade jetzt eine Digitalisierungs- und Produktoffensive
Die alte Leier „Wir müssen uns jetzt auf das Überleben fokussieren“ ist kundenfeindlich. Denn sie richtet sich fast ausschließlich nach innen. Warren Buffett hat mit Blick auf den besten Zeitpunkt zum Aktienkauf bereits vor Jahrzehnten dazu geraten, dann zu kaufen, wenn alle Angst haben. Logistikunternehmen sollten also genau jetzt investieren. Entscheidend für den Erfolg im „New Normal“ ist die Frage, wie schnell sich Unternehmen erholen. Denn nur die Schnellen können ihren Konkurrenten Marktanteile abjagen.
Hochleistungs-Organisationen – und solche, die es werden wollen – nutzen daher die Krise, um überfällige Digitalisierungsvorhaben konsequent voranzutreiben. Dazu zählen beispielsweise die Einführung fortschrittlicher Tracking-Lösungen oder auch KI-Tools für ein besseres Risikomanagement. Viele Firmen rühmen sich auch damit, zu wissen, was ein Kunde benötigt. Doch das ist längst nicht mehr ausreichend: Heute geht es darum, verdeckte Bedürfnisse früh zu antizipieren oder als Unternehmen eine solche Nachfrage komplett neu zu schaffen. Man denke nur an das iPhone, den E-Scooter oder Frachtenplattformen. Voraussetzung dafür ist, dass Unternehmen all ihre Customer Touchpoints kennen und diese in die Produktentwicklung einfließen lassen. Porsche beispielsweise schätzt seine Kontaktpunkte zum Kunden auf mehr als 350 (!).
3. Kostendisziplin ist wichtig, Innovationsdisziplin noch bedeutender
In den vergangenen Jahrzehnten haben Abermillionen Kostenoptimierungsprojekte in der Verladerschaft dazu geführt, dass kritische Teile oder Stabsfunktionen von nur einem Lieferanten oder nur in einer Region hergestellt werden – vorwiegend in Asien. In der Corona-Krise hat sich nun die Kehrseite dieser Strategie sehr deutlich gezeigt. Ein hohes Risiko gehen Unternehmen auch dann ein, wenn mehr als die Hälfte des Umsatzes von wenigen und schon lange am Markt etablierten Produkten kommen. Wenn neue Produkte und Dienstleistungen im Portfolio fehlen, ist die Gefahr groß, nach Corona unrentabler zu wirtschaften. Denn eine zunehmende Commoditisierung und ein weiteres Vordringen der Plattformökonomie werden die Margen unter Druck setzen.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, Innovation künftig als Kernkompetenz in wirklich allen Unternehmensbereichen ernsthaft zu verankern. Das Ziel: neue Einnahmequellen erschließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es das Wirtschaftswunder. Vielleicht erleben wir ein ähnliches in Deutschland, wenn Unternehmen – und damit auch Logistiker – wieder ernsthaft das Experimentieren und kreative Schaffen entdecken. Voraussetzung dafür ist, langfristig zu denken und sich von der „guten alten Zeit“ zu verabschieden. (sr)
Alexander Nowroth ist geschäftsführender Gesellschafter des Düsseldorfer Beratungsunternehmens Lebenswerk Consulting Group.