Neue Seidenstraße braucht Strategiewechsel
Die Eiserne Seidenstraße, die China und Europa über die Schiene als Transportkorridor verbindet, ist ein Kernelement der chinesischen „Belt and Road Initiative“ (BRI). In den letzten Jahren ist hier ein Konzept für den Ost-West-Warenverkehr umgesetzt worden, das neue Kundengruppen angesprochen hat.
Im Jahr 2021 wurden in 15.000 Zügen fast 1,5 Millionen TEU Güter zwischen China und Europa transportiert.
Dieses Jahr werden es deutlich weniger sein, und auch die weitere Entwicklung ist unklar. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Lockdowns aufgrund der chinesischen Zero-Covid-Strategie haben die Eiserne Seidenstraße empfindlich gestört und erzwingen grundlegende Neuorientierungen.
Weniger Transporte auf der Schiene
Der russische Angriff auf die Ukraine hat dazu geführt, dass keine Transporte mehr durch die Ukraine geleitet werden können. Die Gleisanlagen sind zerstört und unterbrochen. Doch bereits vor dem Krieg waren 2 Prozent des Gütervolumens beeinträchtigt, das auf der Eisernen Seidenstraße transportiert wurde.
Die größten Güterbewegungen zwischen Europa und China wurden bislang über verschiedene Schienentrassen via Belarus, Russland und Kasachstan abgewickelt. Diese Gleisanlagen sind physisch nicht beeinträchtigt und weiterhin gebrauchsfähig. Trotzdem kam es seit Kriegsbeginn auch auf dieser Route zu erheblichen Reduzierungen der Transportvolumina.
Ein vollständiger Stopp aller Güterbewegungen durch Russland, wie er angesichts der Kriegsentwicklung und der Sanktionen hätte erwartet werden können, ist nicht eingetreten. Zwar steht Russian Railways RZD unter westlichen Sanktionen, diese beziehen sich aber auf den Kapitalmarktzugang des Unternehmens. Das Transit-Warenverkehrsgeschäft bleibt weiterhin zulässig, westliche Akteure müssen lediglich darauf achten, ihre Zahlungen an den vom Swift-Ausschluss betroffenen russischen Banken vorbei abzuwickeln. Es hat sich gezeigt, dass dies beispielsweise durch die Einschaltung chinesischer Akteure möglich ist. Die zu beobachtende Aussetzung von Geschäftsbeziehungen mit russischen Akteuren muss daher anderweitig erklärt werden.
Sicherheitsfragen und Rechtslage
Im Vordergrund stehen hier ethische Überzeugungen wie auch das Interesse, wertebasierte Branding-Botschaften und Reputationsversprechen gegenüber Kunden und Geschäftspartnern mit Leben zu füllen. Ebenso relevant sind aber auch Sicherheitsfragen bei Transporten durch russisches Territorium. Vor allem auf der West-Ost-Route sind die Container meist mit hochwertigen Gütern gefüllt. Ein Diebstahl dieser Güter auf russischem Territorium wäre derzeit juristisch kaum zu verfolgen. Auch die kommerzielle Versicherung derartiger Verluste ist nicht möglich. Der Transport von Waren durch Russland ist daher zu einem erheblichen prohibitiven finanziellen Risiko geworden.
Alternative Routen
Angesichts dieser Konstellation werden alternative Transportrouten erschlossen, die Russland im Süden umgehen. Auch der Iran steht unter Sanktionen, und europäische Unternehmen meiden formale Geschäftsbeziehungen. Das bedeutet, dass andere Transportwege immer eine zusätzliche Schiffspassage über das Kaspische Meer beinhalten müssen. Hier steht jedoch nur eine begrenzte Anzahl von Fährschiffen bereit, die nicht in der Lage sind, steigendes Frachtaufkommen zu bewältigen. In Anbetracht der Binnenmeerlage ist eine kurzfristige Ausweitung der Fährkapazitäten nicht möglich.
Weitere Probleme erwachsen durch die mangelnde Leistungsfähigkeit der Bahnsysteme in der Region und an der türkischen Grenze bei der Umsetzung der Container zwischen Waggons mit Normal- respektive Breitspur. Die lokale Infrastruktur ist nicht für eine plötzliche Ausweitung des Containeraufkommens geeignet. Dieses Problem kann nur umgangen werden durch eine weitere Schiffspassage über das Schwarze Meer nach Rumänien beziehungsweise Bulgarien. Hierdurch wird die Gesamtlaufzeit der Container allerdings verlängert. Die neuen Südrouten können gegenwärtig nicht die vor dem Krieg über Russland geführten Transportvolumina aufnehmen und führen zu deutlich längeren Transportzeiten.
Rückkehr zum Schiffsverkehr?
Ist die Rückverlagerung der Schienenvolumina auf die Containerlinienverbindungen zwischen Asien und Europa eine Alternative? Gegenwärtig auch nicht. Die Zero-Covid-Lockdowns und die dadurch hervorgerufenen Staus an chinesischen Häfen haben den Transport über See zu einer zeitaufwendigen und insbesondere kaum planbaren Angelegenheit gemacht.
Verschiffungs- und Ankunftstermine können selbst mit großen Zeitfenstern nicht mehr garantiert werden. Das bedeutet, dass die Geschäftsprozesse zahlreicher Kunden nicht mehr in der gebotenen Form bedient werden können.
Transit durch Russland letzte Option
Als Konsequenz dieser Situation ist in den letzten Wochen wieder Transportvolumen auf die Eiserne Seidenstraße zurückgekehrt. Akteure, die eigentlich den Transit durch Russland vermeiden wollten, sehen sich nun gezwungen, diesen als letzte verbliebene Option wieder aufzunehmen. Die in Duisburg ankommenden Container haben so bereits wieder knapp 60 Prozent des Volumens erreicht, das vor dem Krieg bearbeitet wurde. Es bleibt aber abzuwarten, wie nachhaltig diese Wiederbelebung ist, wenn sich in der zweiten Jahreshälfte der Seeverkehr wieder normalisiert.
Auf längere Sicht besteht die Gefahr, dass die russische Invasion in der Ukraine und die chinesische Zero-Covid-Politik (trotz der kurzfristig belebenden Funktion) einschneidende Auswirkungen auf die Eiserne Seidenstraße und die Ausrichtung der Belt and Road Initiative insgesamt haben werden.
Südrouten keine Alternative
Im Falle einer langfristigen Beeinträchtigung der durch Russland und Belarus führenden Transportwege werden bestimmte Geschäftsmodelle der europäisch-chinesischen Arbeitsteilung ihre betriebswirtschaftliche Tragfähigkeit verlieren.
Südrouten, die russisches Territorium umgehen, bieten kein vollständiges Substitut, da sie in Hinblick auf Transportvolumina, Transportdauer und Kostenbelastung weniger attraktiv sind. Es ist zu erwarten, dass es zu einer regionalen Verschiebung von Produktions- und Lieferbeziehungen zulasten Chinas käme.
EU-Unternehmen eingeschränkt
Die Null-Covid-Strategie der chinesischen Regierung verschärft die Situation, wird sie doch von vielen Unternehmen als eine Zäsur und neue Form politischen Risikos bewertet. In früheren Krisensituationen hatte Beijing in seinen Maßnahmen immer darauf geachtet, die Interessen der Wirtschaft zu berücksichtigen und allzu harte Einschränkungen zu vermeiden. Das ist diesmal anders. Europas Unternehmen werden in ihrer Geschäftstätigkeit massiv – und in der Sicht vieler Akteure unnötig – eingeschränkt. Die Reaktion ist deutlich: Gemäß einer Erhebung des Ifo Instituts für Wirtschaftsforschung planen derzeit knapp 50 Prozent der teilnehmenden deutschen Unternehmen, ihre Beschaffungsaktivitäten auf dem chinesischen Markt einzuschränken.
Wenn Unternehmen neue Beschaffungsmärkte aufbauen und sich neue industrielle Gravitationszentren ausbilden, dann geht das zwangsläufig mit einer Verlagerung von Güterströmen und Veränderungen der zugrundeliegenden Logistikstrukturen einher.
Viel diskutiert werden derzeit die nordafrikanischen Maghreb-Staaten und die sich in Südostasien ausbildende Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), ein breit aufgestellter ökonomischer Integrationsraum, der, wenn voll entfaltet, eine größere Wirtschaftskraft aufweisen wird als die Europäische Union. Weder für Nordafrika noch den RCEP-Raum stellt die Eiserne Seidenstraße ein überzeugendes Logistikmodell dar. Es steht zu befürchten, dass die Eiserne Seidenstraße mittelfristig an Warenverkehr verlieren wird. Im schlechtesten Szenario würde sie zu einem Vehikel des bilateralen chinesisch-russischen Handels verkümmern.
Austausch mit China für EU wichtig
Noch aber sind die langfristigen Auswirkungen unsicher. Ein wirtschaftlicher Austausch mit China bleibt für Europa von zentraler Bedeutung – und damit grundsätzlich auch die Eiserne Seidenstraße. Möglicherweise könnte die Europäische Union im Rahmen ihrer Global-Gateway-Strategie, die ja als Antwort zur chinesischen Belt and Road Initiative konzipiert wurde, in den Aufbau der fehlenden Infrastruktur auf den neuen Südrouten investieren. (fho)
Prof. Markus Taube ist Inhaber des Lehrstuhls für Ostasienwirtschaft mit dem Schwerpunkt China an der Mercator School of Management an der Universität Duisburg-Essen. Taube ist Direktor des Instituts für Ostasienwissenschaften und Kodirektor des Konfuzius-Instituts Metropole Ruhr.