Vom Geflüchteten zur Fachkraft

Einerseits Fachkräftemangel, andererseits Geflüchtete, die arbeiten wollen. Wie viele Menschen aus der Ukraine haben eine berufliche Perspektive in Unternehmen der Logistik in Deutschland gefunden und welche Erfahrungen gibt es auf beiden Seiten?

Teilnehmer einer Jobmesse für ukrainische Geflüchtete von der IHK Berlin und der Agentur für Arbeit stehen an Infoständen. Mehr als 50 Unternehmen sind mit Infoständen und Jobangeboten vor Ort.(Foto: dpa/Christoph Söder)

Rund 29.000 Ukrainer waren im März dieses Jahres sozialversicherungspflichtig in Deutschland in Logistik- und Verkehrsberufen (ohne Personenverkehr) beschäftigt. Allerdings erfasst die Bundesagentur für Arbeit statistisch nicht, ob es sich dabei um Geflüchtete handelt oder nicht. Eine Einschätzung des Anteils der Kriegsflüchtlinge seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 ist somit nur anhand des Zeitverlaufs möglich. Da im Dezember 2021 etwa 4.350 Beschäftigte mit ukrainischem Pass in diesem Berufssegment bei den Sozialversicherungen gemeldet waren, könnten im Frühjahr 2024 rund 24.650 Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland im Bereich Logistik gearbeitet haben.

Einige Hundert von ihnen sind bei DHL tätig. „Wir haben inzwischen insgesamt 23.000 Geflüchteten ein Arbeitsangebot gemacht, darunter 500 aus der Ukraine. Damit sind wir ein Vorreiter unter den Unternehmen in Deutschland“, unterstreicht Annette Mock, die seit 2015 bei DHL Group im Bereich Corporate Social Responsibility für die Initiative zur Flüchtlingsintegration verantwortlich ist.

Im Vergleich zu anderen Nationalitäten falle auf, dass das Interesse an Arbeitsangeboten unter den Ukrainern aus verschiedenen Gründen geringer sei: „Unter den Geflüchteten sind mehr Frauen, viele davon mit Kindern, die mehr Unterstützung brauchen“, erläutert Mock. Auffällig sei auch ein eigenes Selbstverständnis: „Viele sind höher qualifiziert und fordern auch ein, entsprechend eingesetzt zu werden.“

Gerade in der Anfangszeit der Flüchtlingswelle aus der Ukraine 2022 sei der Wille zu lernen und sich zu integrieren noch nicht so groß gewesen. „Manche Schüler haben lieber weiter den ukrainischen Online-Unterricht genutzt als aktiv in das deutsche Bildungssystem einzusteigen“, beobachtete Mock.

Auch die Bereitschaft, erst einmal in niedriger qualifizierten Jobs etwa in Teilzeit anzufangen, um dabei und parallel die Sprachkenntnisse weiter zu verbessern, soziale Kontakte aufzubauen und die Möglichkeit zu haben, sich etwa im Paketzentrum zum Teamleiter hochzuarbeiten, sei nicht so stark ausgeprägt. „Ich finde es erstaunlich, dass es da im Vergleich zu anderen Flüchtlingen solche Abweichungen gibt“, sagt Mock.

Wie schnell ein Einstieg in den Produktionsbereichen mit Begleitung durch die Kollegen, Netzwerke und eine Sprachlern-App klappt, sei sehr individuell und eine Frage der Motivation. „Denn wer hierbleiben will, möchte in der Regel auch seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten. Es ist Aufgabe der Politik, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass ein Interesse daran besteht, einer Arbeit nachzugehen“, so Mock.

Unterstützung durch Begleitung und Qualifikation

Ein anderes Unternehmen, in dem bereits zahlreiche Kriegsflüchtlinge tätig sind, ist der Logistikdienstleister Dachser aus Kempten. „Seit dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine im Februar 2022 haben wir in Deutschland rund 60 ukrainische Mitarbeitende eingestellt“, berichtet Gabriele Saidowski, Head of HR Management Dachser Road Logistics Germany. Insgesamt beschäftigt das Unternehmen deutschlandweit derzeit 82 Mitarbeitende mit ukrainischer Staatsbürgerschaft. 41 davon arbeiten in einem gewerblichen Beruf, davon auch sechs Auszubildende.

Die größte Herausforderung sei zu Beginn die Sprachbarriere, so Saidowski. Daher sei es wichtig, dass die ukrainischen Mitarbeiter Sprachkurse in Deutschland besuchten. „Erfreulicherweise bringen viele Ukrainer und Ukrainerinnen aufgrund ihrer guten Vorbildung bereits Deutschgrundkenntnisse mit.“ Sehr unterschiedlich ausgeprägt sind die logistischen Fachkenntnisse: „Es sind Mitarbeitende dabei, die bereits Logistik-Know-how haben, zum Beispiel im Umgang mit Gefahrgut. Andere bringen Erfahrungen im Zoll mit. Manche haben eine kaufmännische Ausbildung, teilweise mit einem Universitätsdiplom“, erläutert Saidowski.

Um die vor dem Kriegsgeschehen Geflüchteten in die Logistikberufe zu integrieren, sei ein intensiver und wertschätzender Austausch notwendig, der die individuellen Kompetenzen erfasse, berichtet Heike Jahn, HR-Managerin bei Dachser in Steißlingen. „Anschließend gilt es, diese entsprechend zu fördern, die Mitarbeiter weiterzuentwickeln und mit ihnen gemeinsam herauszufinden, wo sie ihre Kompetenzen adäquat einsetzen können.“

Dazu nehmen die neuen Kollegen an Trainings teil, beispielsweise dem internen Schulungsprogramm für das unternehmenseigene Transportmanagementsystem. Außerdem durchlaufen sie zu Beginn unterschiedliche Bereiche, um diese kennenzulernen, das Unternehmen und die Logistik an sich zu verstehen. Darüber hinaus erhalten sie spezifische Logistikschulungen und bekommen praktische Unterstützung durch die „Transit Terminal Trainer“, die als Wissens- und Know-how-Vermittler in den Umschlaghallen fungieren. Sofern die Tätigkeit dies erfordert, erwerben die neuen Beschäftigten einen Staplerschein.

Damit sich die ukrainischen Geflüchteten schnell in ihrem neuen Arbeitsumfeld zurechtfinden, gibt es in den deutschen Niederlassungen des Unternehmens mehrere Onboarder, die sich insbesondere intensiv um diese neuen Teammitglieder kümmern. „Sie führen unter anderem Feedback-Gespräche durch, um nah an den Bedürfnissen der neuen Mitarbeitenden zu sein und herauszufinden, was gegebenenfalls für eine gute Integration im Arbeitsumfeld fehlt“, berichtet Saidowski. „Dank des Durchlaufs durch mehrere Abteilungen im Rahmen des Onboardings fühlen sich die Mitarbeitenden schnell und gut im Unternehmen integriert.“

In Hamburg hat Dachser mit einem Mentoren-Konzept gute Erfahrung gemacht. „Wir setzten ukrainische Mitarbeitende, die schon länger im Unternehmen sind, als Mentoren ein, um die Integration der neuen Mitarbeitenden zu fördern“, berichtet Antje Steffens, HR-Managerin bei Dachser in Hamburg. „Damit ist eine gute Kommunikationsbasis vorhanden.“

Ausbildung als Einstieg

Beim Logistikdienstleister Hellmann aus Osnabrück gibt es in Deutschland derzeit elf ukrainische Mitarbeiter, zwei davon sind Azubis und eine studiert dual. Einer der elf ist der 19-jährige Illya Vakulenko, der hier seit August eine dreijährige Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik absolviert. Im März 2022 floh Vakulenko mit seiner sechs Jahre älteren Schwester aus Odessa vor dem Krieg. Nach seiner Flucht ging er in Deutschland zur Schule. Parallel dazu besuchte er online weiterhin den ukrainischen Unterricht und erwarb den Abschluss der allgemeinen Sekundarbildung seines Heimatlands, der in etwa dem deutschen Abitur entspricht. Das Zeugnis ließ er sich ins Deutsche übersetzen.

Der Anfang hier war nicht einfach: „Es war sehr schwer, einen Ausbildungsplatz als Fachinformatiker oder Logistiker zu finden“, berichtet Vakulenko. „Auf viele Bewerbungen habe ich gar keine Antwort erhalten. Bei meiner Suche habe ich online einen Praktikumsplatz bei Hellmann gefunden und bin nun sehr froh, dass ich hier eine Ausbildung machen kann.“ Im Augsburger Lager lernt er gerade das Abladen und das Verladen von Waren vom und auf den Lkw sowie das richtige Scannen. Dafür ist er für zwei Wochen in der Frühschicht, wo er – wie alle Azubis – von erfahrenen Kollegen an die Hand genommen wird.

Die größte Herausforderung sei für ihn am Anfang die Kommunikation gewesen, erinnert sich Vakulenko, der inzwischen sehr gut Deutsch spricht. Für die Zukunft hat er konkrete Pläne: „Ich möchte in Deutschland bleiben und bei Hellmann weiterarbeiten. Und wenn ich noch etwas Neues anfange, würde ich im Unternehmen gern eine Ausbildung zum Fachinformatiker machen.“

Wenngleich bei Kühne + Nagel die Anzahl der Ukrainer in der Belegschaft nicht erhoben wird, sind auch hier Geflüchtete tätig. Darunter ist beispielsweise Olga Syvak aus Odessa, die seit zwei Jahren in Bremen als „Sea Logistics Operational Care Specialist, Documentation“ im Unternehmen tätig ist. Nach ihrem Master in Logistics and Transport Management an der Odessa National Maritime University arbeitete sie bis Kriegsbeginn im Bereich Landtransport. „Mit Logistik hatte ich bereits vorher zu tun, aber die Seefracht ist eine neue Erfahrung für mich.“ Den Weg zu Kühne + Nagel fand sie ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland über einen privaten Kontakt ihres Mannes, der ihr vorschlug, sich dort zu bewerben. „Dass ich damit Erfolg hatte und nun hier auf Englisch arbeiten kann, freut mich sehr. Ich möchte hierbleiben und bin dabei, Deutsch zu lernen.“

Teilzeit kommt Frauen entgegen

Ebenfalls aus Odessa stammt Marharyta Redvanska, die in der gleichen Position arbeitet und anfangs sogar im gleichen Team wie Syvak in Bremen war. Nach zwei Masterabschlüssen an der Odessa National Maritime University, einmal in Logistik, einmal in Transport Management, ist die Logistik auch für sie kein Neuland. Zusammen mit ihrem Mann und der damals knapp einjährigen Tochter floh sie Ende März 2022 zu den Eltern ihres Mannes in Niedersachsen. Der Kontakt zu Kühne + Nagel entstand über ein Linkedin-Profil, worüber Hilfe bei Bewerbungen angeboten wurde. Sie bewarb sich erfolgreich bei mehreren großen Logistikfirmen, aber „Kühne + Nagel war das erste Unternehmen, das mir geantwortet hat“, begründet sie ihre Wahl. „Ich bin froh, dass wir hier in Sicherheit sind. Und schon wegen der Kinder möchten wir in Deutschland bleiben.“

Mariia Zemliana stammt aus Kiew und hat einen Masterabschluss in Logistik von der National Aviation University. Sie arbeitet bereits seit zwölf Jahren für Kühne + Nagel. In der Ukraine war sie Key Account Managerin, seit zwei Jahren ist sie Global Sales Tender Management Expert bei Kühne + Nagel in München. „Ich finde es toll, dass man in Deutschland als Mutter auch in Teilzeit arbeiten kann“, berichtet sie. Auch die deutsche Unternehmenskultur hat es ihr angetan: „Ich bin beeindruckt, wie hart und effizient hier gearbeitet wird“, betont Zemliana. „Meine Kinder möchten in Deutschland bleiben, aber ich weiß es noch nicht genau. (zp/fh)

Ihr Feedback
Teilen
Drucken

Sie sind noch kein Abonnent?

Testen Sie DVZ, DVZ-Brief oder DVZ plus 4 Wochen im Probeabo und überzeugen Sie sich von unserem umfassenden Informationsangebot.

  • Online Zugang
  • Täglicher Newsletter
  • Wöchentliches E-paper

 

Zum Probeabo

Jetzt 4 Wochen kostenlos testen

Kundenservice

Sie haben Fragen? Kontaktieren Sie uns gerne.

Sie sind noch kein Abonnent?

Testen Sie DVZ, DVZ-Brief oder DVZ plus 4 Wochen im Probeabo und überzeugen Sie sich von unserem umfassenden Informationsangebot.

  • Online Zugang
  • Täglicher Newsletter
  • Wöchentliches E-paper

 

Zum Probeabo

Jetzt 4 Wochen kostenlos testen

Kundenservice

Sie haben Fragen? Kontaktieren Sie uns gerne.

Kundenservice

Sie haben Fragen? Kontaktieren Sie uns gerne.

Nach oben