Der schwere Weg nach Westen

Die Ukraine hofft auf eine stärkere Anbindung an die Europäische Union. Transportwege sind dafür zentral. Für den Wiederaufbau haben die Weltbank und die ukrainische Regierung einen gigantischen Finanzbedarf ermittelt.

Grenzübergang zwischen Schehyni (Ukraine) und Medyka (Polen): Lkw ukrainischer Transportunternehmen werden durch Proteste polnischer Landwirte an der Weiterfahrt gehindert. (Foto: dpa/Abaca)

Die Wut der polnischen Bauern entlädt sich am Grenzübergang Medyka zur Ukraine. „Stoppt die Brüsseler Diktatur“ und „Stoppt die Einfuhr von Honig“ steht auf Plakaten, die sie dort aufgehängt haben und mit denen sie fast täglich in den Fernsehnachrichten zu sehen sind. Seit Monaten hindern sie ukrainische Lkw an der Weiterfahrt Richtung Europa. Die Bauern befürchten, dass die Güter nicht nur für den Transit bestimmt sind, sondern dass die Ukraine sie billig in Polen verkauft und damit den dortigen Landwirten Konkurrenz macht. Die Regierungen beider Länder versuchen, auf politischer Ebene eine Lösung zu finden. Bisher vergebens.

In der vergangenen Woche hat die EU auf die Proteste der Bauern reagiert und will für den Import von Eiern, Geflügel, Mais, Hafer, Grütze, Zucker und Honig nur noch bestimmte Kontingente zulassen, die zollfrei verkauft werden dürfen.

„Für uns ist im Moment die polnische Grenze die größte Herausforderung“, sagt Oleksandra Azarkhina, stellvertretende Infrastrukturministerin, im Gespräch mit der DVZ. Im Februar habe die Ukraine 8 Millionen Tonnen Güter exportiert, mehr als die Hälfte davon sei Getreide gewesen. Normalerweise transportiere sie 300.000 Tonnen durch Polen, also erheblich weniger. Azarkhina ist überzeugt, dass es nicht nur um Agrargüter geht. Sie spricht von einem Handelskrieg und befürchtet, dass angesichts der Probleme an den Grenzen Unternehmen ihre Produktionen nach Polen verlegen könnten. Deshalb hofft sie, dass die polnische Regierung sie weiter unterstützen wird.

Die Karte zeigt die Verlängerung von vier Korridoren in die Ukraine. Rot: Nordsee-Ostsee; Lila: Ostsee-Schwarzes Meer-Ägäisches Meer; Dunkelblau: Ostsee-Adratisches Meer; Hellblau: Rhein-Donau.

Containerverkehre per Bahn

Der Grenzstreit ist nur eine Herausforderung, die die ukrainische Regierung meistern muss. Sie kümmert sich zudem um den Wiederaufbau von zerstörter Infrastruktur und sichert Transporte innerhalb des Landes und für den Export. „Wir entwickeln Containerverkehre per Bahn für Getreide. Außerdem organisieren wir Transporte über die Donau“, sagt Azarkhina. Doch auch das läuft nicht ohne Probleme. Das russische Militär bombardiert Häfen und Transportrouten.

Viele internationale Unternehmen seien trotz aller Schwierigkeiten in der Ukraine geblieben, sagt Stefan Kägebein, Regionaldirektor Osteuropa beim Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft. Die Grenzblockaden belasteten die Branche beim Getreidetransport über die Grenzen vor allem nach Polen, teilweise aber auch nach Ungarn, Rumänien und in die Slowakei. Auch Just-in-time-Lieferungen seien betroffen und schwierig. Für die Automobilindustrie sei dies zu einem Problem geworden. „Unkalkulierbare Wartezeiten sind Gift“, weiß Kägebein.

Im- und Export von Deutschland in die Ukraine haben sich in den vergangenen Jahren wieder erholt und liegen teilweise sogar über dem Vorkriegsniveau.

Verlagerung von Standorten

Die Logistikunternehmen passen sich an. „Statt Kiew wird jetzt das weiter westlich gelegene Lwiw angefahren“, sagt Christian Weber, Sprecher des Logistikdienstleisters Dachser, der Stückgutverkehre in die Ukraine anbietet. Im Gegenzug habe das Unternehmen Verkehre in seine Dachser-Niederlassung im polnischen Rzeszow verlagert, um von dort aus die Ukraine anzubinden. Zuvor waren die Verkehre im polnischen Strykov gebündelt worden. Nach einem kompletten Verladestopp aus Sicherheitsgründen in den ersten Kriegswochen habe Dachser bereits im Mai 2022 über seinen Partner ACE Logistics die Stückguttransporte in die Ukraine wieder aufgenommen. „Wie stark das Land vom Krieg betroffen ist, zeigt sich unter anderem daran, dass das Warenaufkommen seit Kriegsbeginn in beide Richtungen um rund 70 Prozent zurückgegangen ist“, berichtet Weber. Dachser werde die Verbindung unabhängig davon aufrechterhalten.

„Im Moment navigieren wir auf Sicht“, sagt auch Philip Sweens, Geschäftsführer der HHLA International, der DVZ. Er ist verantwortlich für das ukrainische Container Terminal Odessa (CTO), das die Hamburger seit 2001 betreiben. Als ein ständiges Auf und Ab beschreibt er die Arbeit am Schwarzen Meer. Nach Übernahme der Konzession habe sich der Umschlag im Terminal gut entwickelt.

Mit dem Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers im September 2008 sei er eingebrochen und habe sich anschließend wieder erholt. Ähnliches erlebte Sweens, als Russland die Krim annektierte: Einbruch, Erholung. „Ein Krisenteam beobachtet die Lage derzeit täglich“, sagt der HHLA-Manager. Mittlerweile verlassen laut Sweens das CTO mehrere Getreideschiffe pro Monat und fahren über die Territorialgewässer nach Rumänien und Bulgarien.

Oleksandra Azarkhina ist dankbar für die internationale Hilfe und das Engagement von Unternehmen, die zugleich von ihrem Einsatz profitieren. „Wir haben letztlich mit den größten deutschen Unternehmen gesprochen. Vier hatten angegeben, dass ihre Ergebnisse 2023 höher waren als 2021“, sagt die Ministerin. Auch der Bausektor wachse. Das zeigt sich an den Handelszahlen zwischen Deutschland und der Ukraine, die sich dem Ost-Ausschuss zufolge in den vergangenen Monaten wieder erholt haben.

Gigantisches Wiederaufbauprogramm

Auf politischer Ebene arbeiten die Ukraine und die internationale Gemeinschaft an einem gigantischen Wiederaufbauprogramm. Die Weltbank, die ukrainische Regierung, die Europäische Union und die Vereinten Nationen schätzten im Februar in ihrer dritten Schnellbewertung der Schäden und des Bedarfs (RDNA3) die Schadenkosten auf 152 Milliarden US-Dollar und die Kosten für den Wiederaufbau auf 489 Milliarden Dollar. Die Europäische Union sagte für den Aufbau kürzlich 50 Milliarden Euro zu. Verkehrskommissarin Adina Valean schlug vor, die erleichterten Regeln für Lkw-Transporte zwischen der Ukraine, Moldawien und der Europäischen Union bis Ende 2025 zu verlängern. Ziel sei es, die Lieferketten zu sichern und damit den Handel zwischen den Ländern zu erleichtern.

Azarkhina setzt ihre Hoffnungen auf Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Die Ukraine hatte kurz nach Kriegsbeginn einen Beitrittsantrag gestellt und sich damit zu Reformen verpflichtet. Wichtige Themen sind das Justizsystem und der Kampf gegen Korruption und Geldwäsche. Mit Letzterem hat das Land Probleme. „Die Ukraine macht bei der Rechtssicherheit sehr gute Fortschritte“, ist Philip Sweens überzeugt. Doch wenn jetzt viele Hilfsgelder in die Ukraine flössen, müsse der politische Rahmen sehr gut gesetzt sein.

Perspektive für EU-Beitritt

Seit Dezember 2023 hat die Ukraine eine Perspektive. Da beschloss der Europäische Rat, mit dem vom Krieg gebeutelten Land Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Doch der Weg ist steinig, der sogenannte Acquis communautaire umfasst 35 Kapitel mit Vorgaben, die die Ukraine erfüllen muss. Im Transportkapitel geht es zum Beispiel um technische Normen und Sicherheitsstandards, Verkehrssicherheit, Sozialstandards, die Kontrolle staatlicher Beihilfen sowie die Marktliberalisierung im Rahmen des Verkehrsbinnenmarktes.

Um das ukrainische Transportnetz an das europäische anzubinden, hat die EU-Kommission bereits konkrete Vorschläge für Trassenverläufe gemacht, beispielsweise zum Nord-Ostsee-Korridor, der über Lwiw und Kiew bis nach Mariupol reichen soll. Außerdem gibt es den Ostsee-Schwarzmeer-Ägäis-Korridor über Lemberg, Czernowitz (Rumänien und Moldawien), der bis nach Odessa verlängert werden könnte. Die Korridore Ostsee-Adria und Rhein-Donau sollen laut EU-Kommission durch Lwiw verlaufen. Der Fluss Dnipro wurde ebenfalls in das TEN-V-Netz aufgenommen.

Bau von KV-Terminals notwendig

In dem gemeinsamen RDNA3-Bericht schreiben die Experten, dass sich das Land mit Hilfe eines multimodalen Transportsystems auf den schnellen Umschlag von Gütern von einem Verkehrsträger auf den anderen konzentrieren sollte. Das erfordere den Bau von Terminals für den Kombinierten Verkehr in den westlichen und südlichen Regionen.

„Die Terminals sollten auch Verbindungen zwischen dem Schienen- und dem Wasserverkehr umfassen, um die Entwicklung der Binnenschifffahrt zu fördern und einen Teil des Güterverkehrs von der Straße auf das Wasser zu verlagern“, so die Fachleute. Inwieweit und wie schnell das zu realisieren ist, ist unklar. Bei Transporten auf der Schiene funktionieren die grenzüberschreitenden Bahnverkehre selbst zwischen EU-Mitgliedsstaaten nicht. „Viele Gleise sind baufällig“, erzählt Jon Worth, politischer Blogger und Initiator des Projekts „Cross Border Rails“.

„Unterschiedliche Spurweiten und technische Spezifikationen erschweren den Schienengüterverkehr über die Grenzen hinweg“, sagt auch Boglarka Mondvay-Nemeth, Leiterin der Abteilung Marketing und Kommunikation von der österreichischen Bundesbahn ÖBB. In gewissem Maße sei es von entscheidender Bedeutung, die Anbindung an die Ukraine zu verbessern.

„Dies sollte jedoch nicht durch eine Kürzung der für andere notwendige Investitionen in die EU-Infrastruktur vorgesehenen Mittel geschehen“, so Mondvay-Nemeth. Die Mittel sind knapp. 2,3 Milliarden Dollar benötigt die Ukraine in diesem Jahr für die wichtigsten Infrastrukturprojekte wie Brücken, Schienen oder Grenzposten. Laut RDNA3-Bericht Stand Februar 2024 summieren sich die Kosten bis 2033 auf rund 73 Milliarden Dollar.

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