Peer Witten: „Europa ist unsere Chance“

DVZ: Herr Prof. Witten, schlechte Nachrichten dominieren die Nachrichtenlage – welche drei positiven Meldungen sind Ihnen in der letzten Zeit aufgefallen?
Peer Witten: Eine gute Meldung war, dass nach dem schweren Erdbeben in Myanmar auch nach mehr als 72 Stunden noch Menschen lebend geborgen werden konnten – eine positive Überraschung inmitten des Schreckens. Überraschend war auch, dass Arminia Bielefeld den amtierenden Pokalsieger Bayer Leverkusen geschlagen hat. Das zeigt, was mit Einsatz, Mut, Willen und Selbstbewusstsein möglich ist, auch gegen vermeintlich übermächtige Gegner. Eine lehrreiche Erfahrung, nicht nur für den Sport.
Und Ihre dritte positive Nachricht?
Alle Entwicklungen, die Europa stärken. Besonders erfreulich finde ich die diplomatischen Bemühungen von Präsident Macron, europäische Staats- und Regierungschefs zusammenzubringen. Europa ist unsere Chance.
Was erwarten Sie in dieser Hinsicht von der Politik?
Ich wünsche mir, dass die neue Regierung das Weimarer Dreieck wiederbelebt – also eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Frankreich und Polen. Wenn auch Großbritannien dabei ist, könnte das der Motor Europas werden. Ich glaube nicht, dass die EU als Ganzes handlungsfähig genug ist, aber diese vier Länder könnten gemeinsam zeigen, dass es neben den USA, China und Russland auch ein starkes Europa gibt.
Was treibt diesen Motor an?
Eine enorme Wirtschaftskraft, 450 Millionen Menschen, viele kluge Köpfe. Was sind dagegen die 140 Millionen Russen? Auch im Vergleich zu den USA müssen wir uns nicht verstecken. Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein. Kein vollständiges „Decoupling“ von China oder den USA – aber ein eigenständiger europäischer Weg mit klarem De-Risking. Europa muss weg vom Single-Sourcing und hin zu Multi-Sourcing. Kritische Güter wie Chips oder pharmazeutische Produkte müssen wieder verstärkt in der EU produziert werden – nicht vollständig, aber in relevanten Mengen. Das ist möglich, wenn der politische Wille, die Überzeugung und der nötige Druck vorhanden sind.
Sie sind kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, haben als Kind und junger Erwachsener den Wiederaufbau miterlebt, später dann den Kalten Krieg, diverse Krisen, den Deutschen Herbst und die Wiedervereinigung miterlebt. Wie blicken Sie auf das aktuelle Weltgeschehen?
Die aktuelle Lage ist gravierend anders. Besonders durch Donald Trump ist eine neue Unsicherheit entstanden. Sein unberechenbares Verhalten sorgt für enorme Volatilität. Zwar gab es auch früher Krisen wie die Kuba-Krise oder den Mauerbau, aber das Maß an Unvorhersehbarkeit ist heute anders. Die Wiedervereinigung war für mich ein Höhepunkt, ein Jahrzehnt des Friedens begann. Damals dachte ich, wir bräuchten keine Bundeswehr mehr. Das war eine außergewöhnliche Zeit – bis zur Finanzkrise, die uns gezeigt hat, dass auch unsere Welt wieder Schocks erleben kann.
Heute wird wieder über Wehrpflicht und Kriegstüchtigkeit diskutiert – Dinge, die lange weit weg schienen. Das transatlantische Verhältnis ist massiv gestört. Wohin steuert Amerika?
Amerika zieht sich zurück und konzentriert sich stark auf sich selbst. Trump interessiert sich nicht für die Welt. Und ich fürchte, er wird seinem eigenen Land schaden. Ich rechne mit Inflation, wachsender Belastung für die Bürger und weniger wirtschaftlichem Wachstum, als er verspricht. Viele seiner Pläne werden nicht aufgehen. Für uns Europäer bedeutet das: Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein und müssen neue, starke Partnerschaften aufbauen.
Welche könnten das sein?
Kanada, Südamerika über das Mercosur-Abkommen, Indien, Indonesien, Vietnam, Australien: Das sind wichtige Länder mit großem Potenzial. Wenn die USA oder China nicht auf uns zugehen wollen, müssen wir unsere eigenen Wege gehen. Das muss ein erklärtes politisches Ziel sein und aktiv verfolgt werden durch neue Handelsabkommen, um unsere wirtschaftlichen Interessen zu sichern.
Auch im Vergleich zu den USA müssen wir uns nicht verstecken. Wir brauchen mehr Selbstbewusstsein. Kein vollständiges „Decoupling“ von China oder den USA – aber ein eigenständiger europäischer Weg mit klarem De-Risking. Peer Witten
Trump hat jüngst Zölle eingeführt, die für globale Verwerfungen sorgen. Gleichzeitig sieht man, wie in den USA Institutionen geschwächt, Presse und Wissenschaft behindert werden. Amerika wandelt sich zu einem autoritären Staat.
Das ist richtig und sehr besorgniserregend, gerade bei einem Land wie den USA, das für uns lange ein demokratisches Vorbild war. Aber Trump ist nicht Amerika. Es gibt viele Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner, die seine Politik ablehnen. Ich hoffe, dass sie stark genug sind, um die Demokratie zu erhalten. Denn die Entwicklung hin zu autoritären Strukturen, zum Recht des Stärkeren, ist mit unseren westlichen Werten nicht vereinbar und darf nicht akzeptiert werden.
Die Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz hat viele irritiert. Sie zeigte, wie distanziert die USA mittlerweile zu Europa stehen. Sie haben schon betont, dass wir wirtschaftlich unabhängiger werden müssen. Aber auch aus sicherheitspolitischen Gründen brauchen wir eine moderne Infrastruktur und militärische Aufrüstung, um Europa gegen Bedrohungen wie Russland zu schützen. Kann das gelingen?
Ich bin da sehr optimistisch. Europas wirtschaftliche Stärke wird oft unterschätzt und das Bewusstsein, dass wir aufrüsten müssen, ist mittlerweile angekommen. Viele Länder, vor allem in Osteuropa, sind bereit, deutlich mehr als zwei Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben. Was wir jetzt brauchen, ist ein europäisches Rüstungskonsortium vergleichbar wie Airbus, das gemeinsame Projekte koordiniert und entwickelt.
Ein europäischer Rüstungskonzern also?
Genau. Rüstung ist nicht nur Schutz, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor. Wir sollten nicht allein Waffen in den USA kaufen, sondern selbst einen starken, europäischen Akteur aufbauen. Wenn wir das aktuelle Tempo halten, bin ich zuversichtlich. Es wird weitere Maßnahmen geben – etwa Konzepte für Schutzräume oder Bunker. Wichtig ist aber: Wir müssen kriegstüchtig werden, dürfen uns aber nicht in einen Krieg hineinreden lassen.
Was meinen Sie damit konkret?
Ich halte es für unverantwortlich, wenn öffentlich von „Vorkriegszeiten“ gesprochen wird. Das erzeugt unnötige Ängste. Einer der großen Verdienste von Bundeskanzler Scholz ist aus meiner Sicht, dass er Deutschland bisher aus einer direkten Kriegsbeteiligung herausgehalten hat.
Ich halte es für unverantwortlich, wenn öffentlich von „Vorkriegszeiten“ gesprochen wird. Das erzeugt unnötige Ängste. Peer Witten
Im Zuge der militärischen Aufrüstung könnte künftig die zivile Logistik eine größere Rolle spielen. Ist sie dazu bereit?
Das ist eine große Chance, aber auch eine ernsthafte Aufgabe. Die Logistikbranche wird bereit sein, mit der Bundeswehr oder europäischen Streitkräften zu kooperieren – insbesondere bei Aufgaben, die nichts mit direkten Kampfeinsätzen zu tun haben: etwa der Lagerung von Waffensystemen oder dem Transport von Material auf Straßen.
Allerdings hört man auch, dass die Zusammenarbeit mit der Bundeswehr nicht ganz einfach ist – etwa wegen organisatorischer Hürden.
Das stimmt. Wir sind in Deutschland vielerorts überreguliert, auch in diesem Bereich. Jedes noch so kleine Projekt muss europaweit ausgeschrieben werden. Kommt es zu größeren Vergaben, werden diese dann oft noch von unterlegenen Bietern beklagt. Das führt zu Verzögerungen und lähmt die Umsetzung. Bürokratie und langwierige Verfahren sind ein echtes Hindernis – hier müssen Hürden abgebaut werden.
Sie sind seit langem im Ostausschuss der deutschen Wirtschaft im Präsidium aktiv. Rückblickend: Hat sich die deutsche Politik zu lange Illusionen über Russland und sich wirtschaftlich zu sehr abhängig gemacht?
Russland galt über Jahrzehnte als verlässlicher Partner. Ich habe an die Idee eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok geglaubt. Viele deutsche Unternehmen, darunter auch Otto, waren in Russland sehr erfolgreich. Die Entwicklung hin zur Autokratie – oder Diktatur – hat sich aber erst in den letzten zehn Jahren deutlich beschleunigt. Putins Rolle als jemand, der Geschichte schreiben will, wurde lange unterschätzt.
2014 war ein Schlüsseljahr: Die Krim wurde annektiert, Boris Nemzow, ein Widersacher Putins, wurde in Moskau ermordet. Spätestens da hätte man doch wirtschaftliche Abhängigkeiten überdenken müssen. Warum ist das damals nicht passiert?
Weil die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland sehr erfolgreich waren. Man hat gute Geschäfte gemacht – das galt auch für mein Unternehmen, die Otto Group. Und grundsätzlich: Wenn man politische Systeme als Maßstab nimmt, müsste man auch mit China sofort jeden Kontakt abbrechen. Ein Land mit massiver Überwachung der eigenen Bevölkerung – das ist kaum zu rechtfertigen. Aber so funktioniert internationale Wirtschaft nicht.
China ist aber kein unmittelbarer Nachbar – Russland schon.
Das stimmt, aber auch viele andere Partner sind keine lupenreinen Demokratien. Russland war über viele Jahre ein verlässlicher Markt. Ich war oft dort, gerade um 2010 bis 2012, und habe mich dort auch wohl gefühlt. Wir haben mit Delegationen gearbeitet, und die HHLA hat unter meiner Zeit als Aufsichtsratsvorsitzender versucht, ein Joint Venture für ein Terminalprojekt zu starten. Das waren ernsthafte wirtschaftliche Engagements – mit berechtigter Hoffnung auf Partnerschaft. Wir hatten konkrete Pläne für ein Terminalprojekt in Russland bei St. Petersburg, ein Joint Venture. Doch 2014, mit der Annexion der Krim, hat sich die Lage schlagartig verändert. Plötzlich kippte auch in Russland die Stimmung. Unter diesen Bedingungen war eine Zusammenarbeit nicht mehr möglich.
Heute wird über Szenarien diskutiert, in denen sich Großmächte wie China, Russland und die USA die Welt aufteilen. Russland greift nach Europa, China nach Taiwan, die USA wollen Grönland. Ist so ein Szenario realistisch?
Ich halte diese Sichtweise für verkürzt. Es sind nicht drei, sondern vier Großmächte auf der Welt – und die vierte ist Europa. Unter Führung von Politikerinnen und Politikern wie Macron, Merz oder Tusk kann Europa als politisches, wirtschaftliches und militärisches Kraftzentrum auftreten. Wir dürfen uns nicht als Spielball sehen, sondern müssen selbstbewusst und unabhängig agieren
Trotzdem bleibt Europa sicherheitspolitisch unter Druck. Im Herbst steht das russische Großmanöver „Zapad 25“ in Belarus an. Es gibt Sorgen, Russland könnte das wie 2022 als Tarnung für einen Angriff nutzen, zum Beispiel auf Litauen, um die Suwałki-Lücke zu schließen. Wie realistisch ist so ein Szenario?
Die entscheidende Frage ist: Wann beginnt eigentlich ein Krieg? Haben wir nicht längst einen? Ich habe mit einem Bundeswehr-General gesprochen, der für Cybersicherheit zuständig ist. Er sagt: Was heute in der Ostsee passiert – Spionage, U-Boote in fremden Gewässern, Luftraumverletzungen – wäre früher alles als Kriegsgrund gewertet worden. Wenn Russland einen Angriff plant und diesen als zweckmäßig betrachtet, können wir das nicht verhindern. Aber wir müssen vorbereitet sein und mit Stärke antworten.
Russland galt über Jahrzehnte als verlässlicher Partner. Ich habe an die Idee eines Europas von Lissabon bis Wladiwostok geglaubt. Peer Witten
Blicken wir auf Deutschland und die neue Bundesregierung. Im Bundestag sitzt nun mit der AfD eine in Teilen rechtsextreme Partei, und das als zweitstärkste Fraktion. Ich befürchte, dass es in den kommenden Jahren zu giftigen Debatten kommt, die wenig mit Respekt oder Fairness zu tun haben. Wie sollte man mit dieser Partei und – vielleicht noch wichtiger – mit ihren Wählerinnen und Wählern umgehen?
Ich bin da selbst etwas unsicher. Die entscheidende Frage ist, ob eine Kooperation mit der AfD grundsätzlich möglich ist, beispielsweise durch Einbindung. Solange sie sich aber nicht klar zu Europa und zur NATO bekennt, ist sie aus meiner Sicht nicht koalitionsfähig. Ihr russlandfreundlicher Kurs, ihre anti-europäische und verfassungsfeindliche Haltung muss immer wieder klar benannt und argumentativ entlarvt werden.
Mir würden noch viele weitere Bedingungen einfallen, die die AfD erfüllen müsste, um überhaupt als demokratisch legitimierter Gesprächspartner gelten zu können – etwa in Bezug auf Menschenwürde, Menschenrechte oder Diversität.
Absolut. Es gibt so viele Punkte, an denen sie scheitert. Und daran sollte man auch konsequent festhalten.
Was bedeutet das für die demokratischen Parteien?
Die neue Bundesregierung muss zeigen, dass Demokratie funktioniert – konkret und spürbar. Es braucht Entscheidungen, die den Alltag der Menschen verbessern, gleich zu Beginn. Nur so kann man Vertrauen gewinnen und extremen Kräften den Nährboden entziehen. Themen wie Gendergerechtigkeit oder Mütterrente sind wichtig, aber wenn sie im Vordergrund stehen, verlieren wir den Blick aufs Wesentliche.
Es geht also um echte Problemlösungen.
Genau. Was die Menschen bewegt, muss angegangen werden: sinkende Energiepreise, geringe Inflation, wirtschaftliche Perspektiven und eine überzeugende Antwort auf die Migrationsfrage. Wenn Politik da liefert, zeigt sie Handlungsfähigkeit. Das ist der beste Weg, um der AfD Wählerstimmen abzunehmen.
Ein anderes Problem, das die neue Bundesregierung dringend angehen muss, ist die Infrastruktur. Es wurde jahrelang zu wenig investiert.
Ich glaube, dass der Ernst der Lage erkannt ist. Doch es fehlt oft die Kraft für eine zügige und konsequente Umsetzung. Für mich ist klar: Geld ist da. Aber das allein reicht nicht.
Was braucht es darüber hinaus?
Vor allem Entbürokratisierung und schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren. Wichtig ist, dass nicht jede Entscheidung beklagt wird. Ein zentraler Punkt bei der Infrastruktur ist für mich: Die Verantwortung für Infrastrukturprojekte muss wieder stärker bei den Parlamenten liegen – nicht bei Gerichten. Gerichte sollten prüfen, ob das Verfahren korrekt war, aber nicht, ob der Wachtelkönig wichtiger ist als 50 oder 5.000 Arbeitsplätze. Solche Abwägungen müssen demokratisch legitimierte Parlamente treffen.
Geopolitische Spannungen, wirtschaftliche Unsicherheiten und eine neue Bundesregierung, die vor enorm großen Aufgaben steht: Was folgt nun aus all dem für die Logistikbranche in Deutschland?
Die Logistik ist stark von äußeren Faktoren abhängig. Sie ist kein originärer Wirtschaftszweig wie Industrie oder Handel. Die Branche muss sich agil und resilient aufstellen.
Was heißt das konkret?
Wir brauchen schnellere Entscheidungswege, flachere Hierarchien und schlankere Prozesse, vor allem in großen Konzernen. Interne Abstimmungskaskaden kosten Zeit. Künstliche Intelligenz kann hier helfen, Prozesse zu optimieren und Entscheidungen besser vorzubereiten. Ein anderes Beispiel: Extremwetter-Ereignisse werden zunehmen. Bei der Bahn fallen bei fast jedem Sturm Bäume auf die Gleise – mit massiven Auswirkungen auf den Verkehr. Warum schaffen wir es nicht, entlang der Trassen breitere Schneisen freizuhalten? Das ist in Deutschland kaum durchsetzbar, weil man sich scheut, Bäume zu fällen. Aber genau solche konkreten Maßnahmen machen Infrastruktur widerstandsfähiger – wir müssen nicht nur über Resilienz reden, sondern sie praktisch umsetzen.
Herr Witten, vielen Dank für das Gespräch.