Aller Anfang ist digital

Jeder Verkehrsträger hat andere Rahmenbedingungen, um mit Hilfe von Daten die Prozesse zu verbessern. Umso unterschiedlicher sind somit auch die Ansätze für Digitalsierungsprojekte.

Bei Digitalisierungsprojekten müssen Unternehmen nicht bei Adam und Eva anfangen. Je nach Verkehrsträger sind bereits viele Voraussetzungen erfüllt, um Daten stärker für Prozesse zu nutzen. (Illustration: Istock, Björn Jagdmann)

Erst lernte Martin Patzig Speditionskaufmann, dann arbeitete er sich in die IT-Programmierung ein. Während der vergangenen Jahre hat der Mitarbeiter von BTK Logistik, Rosenheim, für deren IT-System zahlreiche Schnittstellen und kundenspezifische Anbindungen entwickelt. Sein vorerst jüngster Coup ist ein Tool, welches die „Estimated Time of Arrival“ (ETA) beim Kunden aus Telematik- und Auftragsdaten errechnet und viertelstündlich aktualisiert. „Ich habe mir mein IT-Know-how selbst angeeignet“, betont der BTK-Mitarbeiter stolz.

Wenn der Logistikbranche heute eine hohe Digitalisierungskompetenz zugesprochen wird, dann haben Autodidakten wie Patzig einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran. Sie stellen sicher, dass kleine und mittlere Unternehmen mit den Großen auf Augenhöhe mitspielen können. Wenn diese außerdem mit flachen Hierarchien und schnellen Entscheidungsprozessen auffallen, agieren sie flexibler als manche Branchenriesen.

Die Innovationen vieler Start-ups runden dieses Bild ab. Das vorerst jüngste Beispiel sind Teleoperationsplattformen wie Pylot, welche über das Mobilfunknetz autonome Fahrzeuge in Innenstädten und anderen schwierigen Fahrumgebungen lenken. Andere positionieren sich als digitale Speditionen oder spezialisieren sich auf intermodale Supply Chains. Auf der transport logistic, der Logimat und anderen Branchenmessen wurden 2019 zahlreiche Lösungen gezeigt, welche mit künstlicher Intelligenz (KI) und anderen IT-Anwendungen logistische Prozesse weiter automatisieren und die digitale Kompetenz der Branche eindrucksvoll untermauern. „Solche Tools müssen dezentral einsetzbar sein, vernetzt arbeiten und bis zu einem gewissen Grad selbst Entscheidungen treffen können“, zählt Wolfgang Stölzle, Professor für Logistikmanagement an der Universität St. Gallen, auf. Wenn außerdem die Anwender vorhandene Daten besser auswerten und weitere erheben, werden in den kommenden Jahren alle Verkehrsträger bei ihrer weiteren Digitalisierung noch erhebliche Fortschritte machen und den Weg zu verkehrsträgerübergreifenden Supply Chains und anderen intermodalen Lösungen ebnen.

Straßengüterverkehr

Mit dem neuen ETA-Tool hat BTK einen Nerv getroffen. Mit verbessertem Data Mining können Logistikunternehmen die voraussichtlichen Ankunftszeiten ihrer LKW beim Kunden mittlerweile ziemlich präzise errechnen und bei kurzfristigen Zwischenfällen nochmals anpassen.

Solche Anwendungen sind nicht nur für intermodale Lieferketten wichtig. Sie unterstützen außerdem die Dienstleister bei der Optimierung von Flotten- und Tourenmanagement sowie die Verlader bei der Weiterentwicklung ihres Zeitfenstermanagements an den Laderampen.

Mancher Logistiker ermuntert seine Kunden, über Zeitfenster hinaus weitere Daten beispielsweise über vorangegangene Lieferverkehre oder geplante Distributionstouren herauszugegeben. Wenn diese Daten mit künstlicher Intelligenz und neuen Algorithmen ausgewertet werden, könnten die Verlader sogar Lieferbedarf und Lagerbestände anpassen. Den Vorteil hätte jeder Beteiligte in der Supply Chain.

Solche Projekte erfordern jedoch einen Abschied vom „Silodenken“, den MAN-CEO Joachim Drees während der vergangenen Jahre wiederholt angemahnt hatte. Der LKW-Bauer selbst will solches Denken mit der Plattform Rio überwinden, die allen Teilnehmern einer Supply Chain Lösungen für Transport-, Touren- und Auftragsmanagement, Fahrzeugortung, wirtschaftliches Fahren, Lenk- und Ruhezeiten, Wartung und weitere Fahrzeugapplikationen verspricht.

Derart ambitionierte Komplettlösungen haben ihr Nachfragepotenzial bei weitem nicht ausgeschöpft. Möglicherweise können diese auch Tools den Weg ebnen, welche der Markt dringend wünscht. „Wir benötigen ein dynamisches Routing für Kep- und andere Nahverkehrsunternehmen“, nennt Achim Klukas, Logistikwissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund, ein Beispiel. Weil die Fahrer solcher Dienstleister während ihrer Touren häufig neue Aufträge empfangen, müssen sie ihre Routen laufend neu berechnen lassen. Wann diese Aufgabe Fahrassistenten von autonomen Nutzfahrzeugen erledigen werden, ist eine spannende Frage für die Zukunft. Vorerst sind noch jede Menge anderer Aufgaben zu lösen. Die Fragmentierung des Telematikmarkts in zahlreiche Einzelsysteme und Schnittstellen macht vielen Marktteilnehmern weiterhin zu schaffen, zumal verbindliche Standards auch 2020 nicht in Sicht sind. Für intermodale Supply Chains wären diese besonders wichtig.

Schienengüterverkehr

Bei der Digitalisierung hinkte der Schienengüterverkehr lange Zeit anderen Verkehrsträgern hinterher. Das hat sich jedoch seit 2018 geändert. „Viele Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU) schreiten auf einmal mit Sieben-Meilen-Stiefeln voran“, berichtet Stefan Hagenlocher, Geschäftsführer der HWH Gesellschaft für Transport- und Unternehmensberatung, über eine boomende Nachfrage nach Telematiklösungen.

Die Rahmenbedingungen sind günstig: Endlich gibt es autarke Batterien mit mehrjähriger Lebensdauer. Die langwierigen Entwicklungsarbeiten an solchen Lösungen haben die Digitalisierung ebenso verzögert wie die vergleichsweise niedrigen Produktstückzahlen.

Die vorhandenen Telematikprodukte können Positions-, Ladungs- und Ladezustandsdaten erheben. „Weitere Sensoren sind leicht integrierbar, wenn die Backendsysteme in der Disposition weiterentwickelt und Datenschnittstellen standardisiert werden“, berichtet Hagenlocher. Solche Lösungen will der Technische Innovationskreis Schienengüterverkehr (TIS), dem unter Federführung von Hagenlocher 13 Unternehmen angehören, jetzt vorantreiben. Jeder Sensor soll mit jedem Telematikgerät und jedes Telematikgerät mit jedem Server kommunizieren. Mittlerweile existiert ein gemeinsames Internetprotokoll für die Kommunikation der Server untereinander. Die Telematikanbieter können so direkt mit den Eisenbahnverkehrsunternehmen Kontakt aufnehmen und GPS- und andere Daten mitteilen. Jetzt möchte der TIS die Kommunikation der Sensoren mit den Telematikgeräten anpacken.

Weitaus kniffliger ist der Datenaustausch zwischen Güterwagen und Triebfahrzeug. „Ich erwarte frühestens Ende 2020 eine Lösung“, sagt Hagenlocher. Solche Lösungen ebnen auch den Weg zu einer Automatisierung von Kupplungsvorgängen, Bremsproben und anderen operativen Arbeiten. Den Vorstößen von SBB Cargo werden schnell weitere Unternehmen folgen. Und sie machen am Ende den Weg frei für autonome Lokomotiven, die im Güterverkehr weiterhin in den Startlöchern stecken. Dem Vorstoß des Chemieriesen BASF, der solche Fahrzeuge seit 2017 auf seinem Werksgelände einsetzt, sollten schnell weitere Konzerne folgen.

Luftfracht

Digitales Frachtmanagement ist längst auch in der deutschen Luftfracht Realität: In Hamburg wickeln viele Airlines, Agenten, Spediteure, Trucker und weitere Supply-Chain-Teilnehmer Zoll-, Security-, Gefahrgut- und andere Prozesse für ihre Frachten auf der Dakosy-Plattform Fair@Link ab. In München und Frankfurt hat Lufthansa Cargo Selbstbedienungsterminals eingerichtet, welche die Annahme und Abholung von Fracht automatisieren. Und seit 2010 macht der Electronic Airway Bill (E-AWB) Transportprozesse vieler Unternehmen papierlos.

Solche Vorstöße können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Luftfrachtbranche wiederholt Rückschläge erlebt hat und der Nachholbedarf weiterhin groß ist. Mangelhafte Datenanbindungen machen der Branche ebenso zu schaffen wie überregulierte Prozesse. Die Schnittstellen zu Zoll, Luftsicherheitskontrolle und anderen Behörden gelten als mangelhaft.

Kritiker monieren außerdem unzureichende Prognosetools. Auch die Luftfracht müsse endlich in Predictive Analytics investieren und mit vernetzten Datenbeständen, Deep Learning und künstlicher Intelligenz künftige Volumina ermitteln, mahnt Harald Sieke, Luftverkehrslogistikexperte am IML. „Gerade in dieser Branche sind rechtliche und kommerzielle Diskrepanzen die Hauptbarrieren zwischen Partnern“, kritisiert der Wissenschaftler. Wenn Datenaustausch, Schnittstellen und Standards längst geklärt seien, lasse die Umsetzung trotzdem zu wünschen übrig.

Möglicherweise sorgt Robotik für den entscheidenden Durchbruch. Der Vorreiter heißt Speedcargo, ist von Wissenschaftlern der Technischen Universität München (TUM) konzipiert worden und wird zuerst in Singapur mit Unit Load Devices (ULD) beladen. Speedcargo entwickelt mit einem hochmodernen 3-D-Kamerasystem einen „digitalen Fingerabdruck“ der Fracht, arbeitet Packpläne aus, welche alle Flugsicherheitsvorschriften berücksichtigen, und setzt diese Lösung mit seinen Greifern um.

Weitere Applikationen seien kein Problem, betont TUM-Professor Alois C. Knoll. „Alles, was mit Digitalisierung möglich ist, kann in die vorhandenen Prozesse integriert werden“, verspricht der Wissenschaftler.

Schifffahrt

Klaus-Peter Barth spricht deutliche Worte. „Viele Carrier vernachlässigen datenbasierte Geschäftsmodelle“, kritisiert der Partner des Beratungsunternehmens HPC Hamburg Port Consulting vor allem die Containerschifffahrt. „Mit workflowbasierten Kennzahlen können sie ihre Qualität mit Daten aus eigenen IT-Systemen messen.“ An Datenbanken, die solche Informationen bereitstellen, herrscht kein Mangel.

Allerdings wertet vor allem die gesamte Schifffahrt diese bislang nur unvollständig aus und kann deshalb viele Kosten- und Zeitvorteile nicht realisieren. Auch die Chancen zur Vernetzung von Partnern vor allem für Hinterlandverkehre zu intermodalen Logistikketten werden bislang nach einhelliger Meinung nicht genutzt. Die Informationen, die intelligente Container über Standort und Ladung senden, teilen viele Reedereien und Verlader noch nicht.

Gleiches gilt für Daten über Schiffstechnologie, Routen, Wetter und Markt. „Oft liegen solche Daten bereits in Echtzeit vor und können zügig verfügbar gemacht werden“, klagt Carlos Jahn, Leiter des Instituts für Maritime Logistik an der TU Hamburg. Für den Aufbau von verkehrsträgerübergreifenden Supply Chains wären diese ebenso wichtig wie für Flottensteuerung, Personalplanung oder Containerlogistik. Trotzdem rechnet Jahn erst langfristig mit Veränderungen.

Möglicherweise beschleunigen autonome Schiffe diese Entwicklung. Mit Spannung wartet die Branche auf den Start der „Yara Birkeland“ voraussichtlich Ende 2020. Das norwegische Frachtschiff mit elektrischem Antrieb wird nach einer Übergangsphase voraussichtlich 2022 ohne Personal an Bord im Shortsea-Verkehr fahren.

Weitere öffentlich geförderte Projekte sind in Planung. Aus naheliegenden Gründen konzentrieren sich deutsche Unternehmen und Behörden auf die Binnenschifffahrt und bereiten Teststrecken in Brandenburg und Nordrhein-Westfalen vor. (rok)

Oft liegen Daten bereits in Echtzeit vor und können zügig verfügbar gemacht werden.
Prof. Carlos Jahn, Leiter des Instituts für Maritime Wirtschaft an der TU Hamburg-Harburg

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