Straßen.NRW: „Viele Brücken sind für die heutigen Verkehrsbelastungen nicht ausgelegt“
An den Brücken in NRW gibt es reichlich Sanierungsbedarf. Im Interview geben Jörg Reißing und Christian Drescher vom Landesbetrieb Straßenbau Nordrhein-Westfalen (Straßen.NRW) Einblick in ihre Arbeit.
DVZ: Herr Drescher, Herr Reißing: Kürzlich hat eine Bauwerksprüfung „alarmierenden Sanierungsbedarf“ bei vielen Brücken in Nordrhein-Westfalen ergeben. Was bedeutet das konkret?
Jörg Reißing: In der Zuständigkeit des Landesbetriebs Straßenbau NRW sind mit Stand 1. Januar 2023 205 Brücken zu erneuern, 22 Brücken zu verstärken (in der Regel wird zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls ein Ersatzneubau erforderlich) und 69 Brücken instandzusetzen. Die Zustandsentwicklung der Brückenbauwerke ist ein dynamischer Prozess. Das bedeutet, dass sich die Brückenbauwerke im Laufe der Jahre verschlechtern, bis sie durch eine Instandsetzung oder Verstärkung wieder in einen guten Zustand versetzt werden (siehe Antwort zu Frage 4).
Und wie ist die Lage der Straßen in NRW?
Christian Drescher: Der allgemeine Zustand der Bundes- und Landesstraßen in der Zuständigkeit des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen lässt sich anhand der in einem 4-jährlichen Rhythmus durchgeführten Zustandserfassung und -bewertung (ZEB) beschreiben. Die Bewertung sieht vor, die ermittelten Zustandsgrößen in einem Wertebereich von 1,0 bis 5,0 abzubilden. Grundsätzlich gilt, dass Straßen mit einer Bewertung von 1,0 sich in einem sehr guten und mit einer Bewertung von 5,0 in einem sehr schlechten Zustand befinden. Ab einer Bewertung von 3,5 spricht man von der Überschreitung eines Warnwertes, ab 4,5 von der Überschreitung eines Schwellenwertes.
Welche Werte haben die Straßen zuletzt bekommen?
Drescher: Für die in der Zuständigkeit des Landesbetriebs Straßenbau Nordrhein-Westfalen befindlichen Bundesstraßen ergab die letztmalige landesweite Erfassung und Bewertung des Zustandes folgendes Bild: 57,9 Prozent befanden sich in einem besseren Zustand als der Warnwert (3,5), für 21,4 Prozent wurde ein Zustand zwischen Warn- und Schwellenwert (3,5 bis 4,5) festgestellt, und 20,7 Prozent hatten den Schwellenwert (4,5) überschritten. Die Bundesstraßen wurden also im Durchschnitt mit 3,26 bewertet.
Straßen.NRW betreut insgesamt 6.422 Brücken. Wann und wie werden diese alle überprüft?
Reißing: Der bauliche Zustand der Brücken wird im Rahmen der Bauwerksprüfung regelmäßig kontrolliert. Alle sechs Jahre wird eine umfassende Hauptprüfung durchgeführt. Dabei werden alle – auch die schwer zugänglichen Bauwerksteile – in den Blick genommen. Jedes Bauteil der Brücke muss „handnah“ geprüft werden. Das bedeutet, dass der Brückencheck vor allem bei sehr hohen Brücken nur mit Hilfe von Gerüsten, Hubarbeitsbühnen oder Brückenuntersichtgeräten erfolgen kann.
Was wird dabei alles geprüft?
Reißing: Abdeckungen von Bauwerksteilen, zum Beispiel Schutzhauben bei Seilen, Lagermanschetten, Schutzhüllen oder Schachtabdeckungen müssen geöffnet werden, damit auch dort mögliche Schäden entdeckt werden können. Bei Brückenkonstruktionen mit Hohlkästen findet eine Prüfung von außen und im Inneren der Brücke statt.
Welche weiteren Prüfungen gibt es?
Reißing: Drei Jahre nach der Hauptprüfung folgt die sogenannte Einfache Prüfung durch eine der Straßen.NRW-Niederlassungen. Die Einfache Prüfung wird in der Regel als intensive, erweiterte Sichtprüfung durchgeführt. In den Jahren ohne Prüfung führt die jeweils zuständige Straßenmeisterei eine ausführliche Besichtigung durch. Zusätzlich erfolgt zweimal im Jahr eine systematische Beobachtung durch sachkundige Straßenwärter der zuständigen Meisterei. Bei besonderen Anlässen – zum Beispiel nach schweren Verkehrsunfällen oder nach einem Hochwasser – werden Sonderprüfungen durchgeführt. Mit einer Brückennachrechnung kann zusätzlich untersucht werden, ob ältere Brücken für eine dauerhafte Weiternutzung, insbesondere im Hinblick auf den stark gestiegenen Lkw-Verkehr, geeignet sind.
Rund 77 Prozent der Brücken an Landesstraßen und rund 83 Prozent der Brücken an Bundesstraßen liegen im Bereich 1,0 bis 2,4. Warum ist die Lage dennoch alarmierend?
Reißing: Grundsätzlich sind die Brücken in Nordrhein-Westfalen sicher, und zwar unabhängig von ihrem Alter. Zur Gewährleistung dieser Sicherheit werden die Ingenieurbauwerke in der Zuständigkeit von Straßen.NRW systematisch überwacht. Viele Brücken in Nordrhein-Westfalen stammen aus den Hoch-Zeiten des Straßen- und Brückenbaus in den 1960er Jahren bis Mitte der 1980er Jahre. Sie sind für die heutigen Verkehrsbelastungen nicht ausgelegt. Im Durchschnitt sind unsere Brücken an den Landes- und Bundesstraßen somit rund 50 Jahre alt und haben damit mehr als die Hälfte ihrer Nutzungsdauer, die auf 70 bis 100 Jahre ausgelegt ist, überschritten. Diesen Altbestand an Brückenbauwerken gilt es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nachhaltig zu modernisieren.
Wie kommen die Zustandsnoten für die Brücken zustande?
Reißing: Die Entwicklung der Zustandsnoten ist ein dynamischer Prozess, der ständigen Veränderungen unterworfen ist. Im Laufe des Lebenszyklus einer Brücke entwickeln sich Schäden, welche die Zustandsnote entsprechend schlechter werden lassen. Mit einer Sanierung werden diese Schäden behoben, und die Zustandsnote wird entsprechend wieder gut. Kritisch können Bauwerke mit Zustandsnoten zwischen 3,0 und 4,0 werden, diese machen circa 3,3 Prozent des Bauwerksbestands aus. Alarmierend wird die Situation dann, wenn Bauwerke abgelastet oder beispielsweise für den Lkw-Verkehr gesperrt werden müssen. Das bedeutet für die Logistik oft deutliche Umwege und Mehraufwand und ist oft auch eine hohe Belastung für die Anwohnenden auf den Ersatzstrecken. Da jede Brücke ihre Verkehrsbedeutung in der entsprechenden Region hat, gilt es hier gegenzusteuern und insbesondere die älteren Brückenbauwerke entsprechend zu ertüchtigen.
Der Kostenrahmen für die Instandsetzung wird allein für die Brücken an Landesstraßen auf 1,25 Milliarden Euro beziffert. In diesem Jahr sollen in NRW nun 67 Brückenmaßnahmen mit einem Finanzvolumen von fast 100 Millionen Euro fertiggestellt werden. Reicht das aus?
Reißing: Für Ersatzneubauten, Brückenverstärkungen und -instandsetzungen im Zuge von Bundes- und Landesstraßen wird der Sanierungs- und Erhaltungsbedarf derzeit auf insgesamt gut 1,8 Milliarden Euro beziffert. Im Haushalt werden für die nächsten Jahre die notwendigen Mittel bereitgestellt. Allein für 2023 sind Baumaßnahmen an unseren Brücken mit einem Volumen von fast 100 Millionen Euro geplant, die durch entsprechende Haushaltsmittel gedeckt sind.
Könnte mit Blick auf die aktuellen Personalengpässe, selbst wenn das Geld da wäre, überhaupt schnell saniert werden?
Reißing: Wie aufwendig Sanierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen sind, hängt von vielfältigen Faktoren ab. So bestimmen beispielsweise Art, Größe und bauliche Herausforderungen (zum Beispiel besondere Gestaltung, Ersatzneubau unter Verkehr, besonderes Umfeld oder Baugrund) den personellen, materiellen und finanziellen Aufwand einer Brückenmaßnahme. Vor dem Hintergrund können wir keinen konkreten Zeitplan für die Sanierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen benennen.
Straßen.NRW handelt nach strengen Umweltleitlinien. Wie stark hat sich Ihre Arbeit aufgrund von Umwelt- und Klimaschutz in den vergangenen Jahren verkompliziert?
Drescher: Die Umsetzung umweltschutzrechtlicher Auflagen ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Aufgaben. So gibt das Bundesnaturschutzgesetz vor, unvermeidbare Beeinträchtigungen in Natur und Landschaft durch geeignete Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege auszugleichen oder zu ersetzen. Umweltmaßnahmen erfordern umfassende baupraktische Erfahrung sowie naturschutzfachliche Expertise während der Planung, der Umsetzung und der dauerhaften Pflege, die im Landesbetrieb vorhanden und Teil unserer Aufgaben ist.
Wie optimistisch sind Sie, dass sich der Zustand von Straßen und Brücken in den kommenden Jahren wieder verbessert?
Reißing: Wir planen, bauen, erhalten und betreiben Infrastruktur für Bundes- und Landesstraßen in NRW. Mit unseren Maßnahmen gewährleisten wir die Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmenden. Verkehrsbeeinträchtigungen sind nicht nur ein Ärgernis für staugeplagte Straßennutzende, sondern auch eine Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung des Export- und Transitlandes NRW. Durch schnellere und effizientere Planungs- und Bauprozesse, bei denen auch die Innovationspotenziale von Ingenieurbüros und Bauwirtschaft ausgeschöpft werden, wird sich die Situation bei den Brückenbauwerken in den kommenden Jahren sukzessive verbessern. Die Sicherheit und Funktionsfähigkeit der Straßen und Brücken in NRW zu gewährleisten, gehört deshalb zu den wichtigsten Aufgaben der Straßenbauverwaltung NRW.