Lieferdienste: „Der Hype ist auf jeden Fall vorbei“

Lieferdienste galten einst als Gewinner der Corona-Pandemie, nun stecken sie selbst in der Krise. Simon Seeger, Gründer und Managing Director von Bettermile, und Benedikt Stolze, Gründer und CEO von Urbify, ordnen die aktuelle Marktlage im DVZ-Interview ein.

Simon Seeger, Gründer und Managing Director von Bettermile (links), und Benedikt Stolze, Gründer und CEO von Urbify, ordnen die aktuelle Marktlage im DVZ-Interview ein. (Fotos: Bettermile; Urbify)

Lieferdienste galten einst als Gewinner der Corona-Pandemie, nun stecken sie selbst in der Krise. Simon Seeger, Gründer und Managing Director von Bettermile, und Benedikt Stolze, Gründer und CEO von Urbify, ordnen die aktuelle Marktlage im DVZ-Interview ein.

DVZ: Die aktuelle Marktlage bringt Start-ups zunehmend in Geldnot. Nach Angaben der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young (EY) wurde im ersten Halbjahr 2023 zwar öfter investiert, das Volumen ist im Vergleich zum Vorjahreszeitraum aber um 60 Prozent gesunken. Was bedeutet das für die Start-up-Szene?

Simon Seeger: Für Start-ups aller Branchen gilt, dass sie im aktuellen Marktumfeld mehr Druck haben, schnell profitabel zu werden. Dies gilt besonders für kapitalintensive Unternehmen wie Zustell-Start-ups, bei denen es besonders komplex ist, einen operativen Betrieb aufzubauen. Wir bei Bettermile sehen weiterhin ein großes Interesse von Investoren am Logistiksektor, aber eben nicht um jeden Preis. Sie sind zwar weiterhin bereit, in Technologie zu investieren, doch nicht mehr in den defizitären Aufbau eines operativen Zustellnetzwerks.

Benedikt Stolze: Die Zeiten sind aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Lage herausfordernd. Für Start-ups kommt noch die damit einhergehende Investitionszurückhaltung hinzu. Geschäftsmodelle, deren wirtschaftliche Tragfähigkeit nicht oder nur bedingt nachgewiesen werden kann, verschwinden zusehends vom Markt. Das gilt vor allem für Schnelllieferdienste jeglicher Form. Investoren haben mit ihnen in der jüngsten Vergangenheit Verluste eingefahren, was nun zu Zurückhaltung in der LogTech-Szene führt. Viele junge Unternehmen haben sich in der Hochphase zu lange auf Wachstum um jeden Preis bemüht und dabei ihre Unit Economics aus den Augen verloren. Für sie ist es besonders schwierig, wenn nun Finanzierungsrunden ausbleiben. Dennoch werden einige überleben, nämlich die, die sich ein gesundes Fundament geschaffen haben und einen klaren USP im Markt aufweisen können.

Vor allem Lebensmittel-Lieferdienste hatten zuletzt stark mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen. Gorillas wurde von Getir übernommen, nun kämpft das Unternehmen selbst mit Entlassungen und Sparmaßnahmen. Andere Anbieter wie der Ethno-Lieferdienst Yababa, Boxbote oder Dropp haben Insolvenz angemeldet. Ist der Boom der Zustell-Start-ups endgültig vorbei?

Stolze: Der Hype ist auf jeden Fall vorbei. Das Interesse am Quick Commerce ist nahezu vollständig verschwunden und damit auch die meisten Player im Markt. Hinzu kommt, dass die Lebensmittelzustellung mit ihren geringen Margen und den großen etablierten Anbietern wie Rewe, Picnic oder Knuspr ein extrem schwieriges Unterfangen ist. Neben Instant-Delivery-Anbietern ist auch das Angebot von Same-Day-Lieferungen am Markt gänzlich zurückgegangen, weil die notwendige Zahlungsbereitschaft der meisten Endkundinnnen und -kunden nicht in ausreichender Form vorhanden ist und weil Investoren das Geschäft nun nicht mehr so stark wie zuvor subventionieren. Als Folge sehen wir eine Konsolidierung des Marktes.

Seeger: Das investorgetriebene Hyperwachstum ist zu Ende. Hinzu kommt, dass die Rezession und gestiegene Verbraucherpreise die Nachfrage gedrückt haben. Was jedoch geblieben ist, ist, dass der Quick Commerce den Anspruch der Konsumentinnen und Konsumenten an Zustellunternehmen im Allgemeinen verändert hat. Dabei wird dann auch nicht mehr zwischen der Lebensmittel- und der klassischen Paketzustellung unterschieden. Das konnten wir bei Bettermile in einer aktuellen Befragung mit über 1.300 Paketempfängerinnen und -empfängern feststellen.

Warum scheint es gerade diesen Marktbereich besonders schwer zu treffen?

Stolze: In der Zustelllogistik geht es in erster Linie um Volumina und damit auch darum, wie effizient die letzte Meile gestaltet werden kann. Exklusive Anbieter wie beispielsweise Gorillas oder Dropp können keine Sendungen Dritter konsolidieren. Sie sind also von Anfang an auf das eigene Volumen beschränkt. Kommen dann noch Kampfpreise für die Kundenakquise dazu, entsteht ein Fass ohne Boden, das heute kaum noch mit Investorengeldern gestopft werden kann.

Seeger: Marktteilnehmende in dem Bereich müssen zunächst auf radikales Wachstum ausgelegt sein, um überhaupt in die Nähe der Kostendeckung zu gelangen. Dies war bisher nur über sehr starke Subventionierung der Zustellung und des Warenkorbs möglich. Quasi keines der Quick-Commerce-Start-ups hat den operativen Break-even erreicht. Ein „Gesundschrumpfen“ ist schwierig, denn wer Zustellgebiete verkleinert, generiert weniger Umsatz und kann seinen Kundenstamm nicht einfach vergrößern. Das Geschäftsmodell funktioniert nicht.

Die schwedischen Start-ups Instabox und Budbee haben im September 2022 ihren Zusammenschluss bekanntgegeben. (Foto: Trygve/iStock)
Laut Informationen der britischen Financial Times zahlte Getir für Gorillas 1,2 Milliarden US-Dollar. (Foto: Robert vt Hoenderdaal/iStock)
Ende 2022 hat der türkische Lieferdienst-Riese Getir das deutsche Unicorn Gorillas erworben. Doch nun fährt das Unternehmen unter anderem in Deutschland das Geschäft massiv herunter. Nicht nur gab Getir einen massiven Jobabbau bekannt, Medienberichten zufolge zieht sich das Unternehmen nun auch großflächig aus Deutschland zurück. (Foto: Vita/adobe.stock.com)

Sind Zusammenschlüsse wie der von Budbee und Instabox der beste Weg aus der Krise?

Stolze: Das ist sicher ein Weg, vor allem in der Logistik, wo sich vieles um die Konsolidierung des Sendungsvolumens dreht. Nichtsdestotrotz kommt es auf das Konzept an und darauf, ob dieses auch langfristig funktioniert. Inpost ist ein gutes Beispiel für einen Anbieter, der dies bereits bewiesen hat. Ich persönlich hoffe, dass das auch Instabee schaffen wird.

Seeger: Bei Budbee und Instabox war es ein logischer Schritt. Dennoch konnten die Unternehmen damit nicht verhindern, dass sie sich aus mehreren Märkten zurückziehen und ihre Lieferzonen neu ausrichten mussten. Ob dies ausreicht und Konsolidierung auch für andere eine geeignete Überlebensstrategie ist, lässt sich bisher nicht sagen. Wir können nur annehmen, dass Instabox und Budbee nicht die Einzigen sein werden.

Wie ist die Situation für Bettermile und Urbify und wie geht Ihr damit um?

Seeger: Als Anbieter einer KI-basierten Software für die letzte Meile in der Paketlogistik spüren wir, dass der Bedarf an produktivitätssteigernden Tools bei unseren Zielgruppen – also etablierten Zustellunternehmen und Liefer-Start-ups – steigt. Um eine Zustellung nicht nur erfolgreich, sondern auch profitabel durchführen zu können, müssen jedoch viele Zahnräder ineinandergreifen. Ohne Technologie für die letzte Meile geht es quasi nicht mehr. Zugleich erkennen viele etablierte Anbieter, dass sich die Erwartung der Empfängerinnen und Empfänger verändert hat. Eine unbeschädigte Zustellung allein reicht nicht, Empfänger wollen das Paket live verfolgen und dessen Lauf beeinflussen. Für operative Zustellbetriebe wird Technologie zum entscheidenden Faktor.

Stolze: Mit Urbify differenzieren wir uns klar von den meisten Angeboten am Markt. Wir verstehen uns als innovative und moderne Alternative zu den etablierten Paketdiensten und bieten einen Service, der von keinem Marktbegleiter imitiert werden kann. Außerdem kombinieren wir das Beste aus zwei Welten: Unser Service ist ähnlich kundenzentriert, wie man es von vielen Instant-Delivery-Playern kennt. Allerdings haben wir auch die notwendige Effizienz, weil wir analog zu den großen Logistikunternehmen unsere Volumina konsolidieren und so wirtschaftlich erfolgreich sind. Noch dazu haben wir einen stabilen Partner, der unsere ambitionierten Pläne finanziell unterstützt.

Was macht Ihr anders als andere Start-ups?

Stolze: Während viele Zustell-Start-ups in einer Zeit des „Überflusses“ an Investorengeldern gegründet und aufgebaut wurden, haben wir zu genau dieser Zeit einen Bootstrap-Ansatz verfolgt: Wir sind ohne externe Finanzierung ausgekommen. Genau das kommt uns jetzt zugute, da wir im Zeitverlauf keine Produktivität eingebüßt, sondern vielmehr vergrößert haben. Wir können dadurch mit unserem schlanken und agilen Set-up auch die aktuelle Marktsituation meistern. Darüber hinaus haben wir stets auf nachhaltige und vor allem technische Lösungen für Probleme gesetzt. Anstatt suboptimale Prozesse zu dulden und mit zusätzlichem Personal zu heilen, haben wir uns stets Technologie zunutze gemacht, um Herausforderungen dauerhaft in den Griff zu bekommen. Das kostet initial zwar mehr Zeit und Geld, rechnet sich aber schon nach kürzester Zeit.

Bettermile

Das Start-up wurde 2017 ursprünglich als „GLS eCom Lab GmbH“ gegründet und ist aus einem Inkubator des Paketdienstleisters hervorgegangen. Das Jungunternehmen bietet eine geodatenbasierte SaaS-Lösung für mehrstufige Adressverarbeitung, dynamische Routenoptimierung, Navigation von Zustellern und Real Time Tracking und Navigation auf der letzten Meile an. Ziel sei es, die Paketlogistik zu digitalisieren und für alle Beteiligten effizienter zu gestalten und gleichzeitig eine bessere User Experience zu ermöglichen.

Was nehmt Ihr aus der derzeitigen Krisensituation an Erkenntnissen für die Zukunft mit?

Seeger: Dass langfristige Trends wie Digitalisierung und Transformation vom stationärem Handel zum E-Commerce entscheidend sind, nicht kurzfristige Marktentwicklungen in einzelnen Verticals.

Stolze: In Krisensituationen sind vor allem zwei Dinge wichtig: entschlossen entscheiden und gezielt auf die überlebenswichtigen KPIs hinarbeiten. Wir wollen die Krisenzeit bestmöglich überstehen, um uns anschließend wieder auf unser Wachstum zu konzentrieren.

In Deutschland könnte die Zahl der Insolvenzen von Start-ups auf einen neuen Höchstwert steigen. Wie groß ist die Sorge, dass es auch das eigene Unternehmen treffen könnte?

Stolze: Als junges Unternehmen ist dieser Gedanke nie ganz aus dem Kopf zu streichen, aber wir haben in unserem Segment die besten Köpfe, bieten einen tollen Service an und haben darüber hinaus eine finanzstarke Unterstützung im Hintergrund. Das ist kein Grund sich auszuruhen, gibt uns als Unternehmen aber die Möglichkeit, überlegte Entscheidungen zu treffen und nachhaltiges Wachstum zu betreiben.

Seeger: Genauso wie für unsere Kundinnen und Kunden ist es auch für uns unerlässlich, Rentabilität zu verfolgen und gleichzeitig an den richtigen Stellen zu investieren. Wir haben zusammen mit unseren strategischen Partnern auf nachhaltiges Wachstum gesetzt. Das erweist sich in der aktuellen Marktentwicklung als Vorteil.

Wie blickt Ihr auf die Zukunft der Liefer- und Zustell-Start-ups?

Stolze: Es wird eine große Konsolidierung geben, und einige Player werden vom Markt verschwinden. Nur die Anbieter, die zeigen können, dass ihr Konzept langfristig am Markt funktioniert, werden sich behaupten können. Dies sorgt sicherlich noch für einige Veränderungen am Markt, wird dauerhaft aber dazu führen, dass sich starke und stabile Unternehmen am Markt etablieren.

Seeger: Gute Konzepte werden auch in Zukunft gefragt sein – auch wenn Investorengelder vorerst nicht mehr so locker sitzen, wie es in den vergangenen zwei Jahren der Fall war. Umso wichtiger ist es für Start-ups, im operativen Betrieb schneller profitabel zu sein. Technologie wird entscheidend sein, um sowohl die steigenden Kundenerwartungen in puncto User Experience zu erfüllen als auch operative Effizienz gleichermaßen sicherzustellen.

Urbify

Urbify wurde im Jahr 2019 in Berlin gegründet und bietet Kunden wie Asos, Rewe und The Hut Group eine Same- und Next-Day-Delivery-Lösung. Mit Hilfe von individuell wählbaren Lieferfenstern soll eine Zustellquote von 99 Prozent beim ersten Zustellversuch erreicht werden. Bislang liefert Urbify in rund 50 deutschen Städten aus.

Eurer Beobachtung zufolge setzen viele Player in der aktuellen Krise zu sehr auf Wachstum und nicht auf Profitabilität. Warum ist das so?

Seeger: Viele haben zu spät auf ein gesundes und rentables Wachstum umgeschwenkt. Zum Teil, weil dieser Strategiewechsel nicht von heute auf morgen funktioniert.

Stolze: Wachstum ist im Logistikkontext meistens mit steigendem Volumen gleichzusetzen, deshalb ist das sicherlich eine Komponente, um die Profitabilität zu erreichen. Wichtig ist dabei aber auch, den eigenen Service nicht unter Wert zu verkaufen oder schlimmer noch: unter den eigenen Kosten. Dieses Spiel war durchaus üblich, solange Investorengelder das haben auffangen können. Diese Zeiten sind aber vorbei, und es kommt somit auch auf den Preis eines jeden einzelnen Pakets an, das ins Netzwerk aufgenommen wird.

Was sollten Start-ups derzeit tun, um der Insolvenz zu entgehen?

Seeger: Es gilt nun, langfristiger zu denken, als viele es während des Booms getan haben. Dynamische Routenoptimierung, Echtzeittracking und feinere Geodaten sind geeignete technologische Hebel, um das operative Geschäft zu verbessern und zugleich die Zufriedenheit der Empfängerinnen und Empfänger zu steigern. Darüber hinaus kommt bei der Paketzustellung noch eine weitere Herausforderung hinzu: der Fahrermangel. Ultraschnelles Wachstum ist also auch personaltechnisch nicht realisierbar.

Stolze: Wichtig ist die Fokussierung auf das Kerngeschäft. Unternehmen brauchen eine klare Positionierung entlang der Wertschöpfungskette. Zudem müssen Profitabilitätsziele stets mitgedacht werden, denn es geht nicht allein um Wachstum um jeden Preis. Das Team muss stark und erfahren sein, so dass effizient gearbeitet werden kann. Um die Produktivität zu steigern, sind in gewissen Bereichen auch KI-Anwendungen extrem wertvoll und können hier entscheidend unterstützen. Auch das Thema Automatisierung und Optimierung muss von Start-ups eventuell früher angegangen werden, als den meisten lieb ist.

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