Letzter Ausweg Resilienz

Eine resiliente Lieferkette reißt nicht, wenn sie auf die Probe gestellt wird. In einer Welt voller Schocks wird diese Eigenschaft zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor.

Schilfrohr als Sinnbild für Resilienz: nachgebend, aber zurückfedernd. (Bild: iStock [M])

Nachfrage- und Angebotsschwankungen, Materialengpässe, Logistikprobleme, Cyberangriffe und natürlich Gesundheitsrisiken haben die zwei Pandemiejahre 2020 und 2021 geprägt. Einzelne Störereignisse wie die Blockade im Suezkanal, Hafenschließungen, Naturkatastrophen oder Wetterextreme haben die Lage immer wieder zusätzlich verschärft. In so einer Welt hat das lange unterschätzte Thema Resilienz einen regelrechten Hype erlebt.

Im „Hype Cycle for Supply Chain Strategy“ der Marktforscher von Gartner stand das Schlagwort 2021 bereits auf dem sogenannten Gipfel der überzogenen Erwartungen. Nach dem Innovationsauslöser und dem Höhepunkt eines Hypes folgt in der Regel ein Tal der Tränen. Dort angekommen ist bereits das Supply-Chain-Risikomanagement, in das bereits viele Unternehmen investiert haben – und nun desillusioniert sind, weil es die Erwartungen nicht erfüllt hat. Die letzten beiden Phasen sind der Pfad der Erleuchtung und schließlich die Produktivitätsebene, die zugleich den Durchbruch bedeutet. Erst in fünf bis zehn Jahren dürfte es Gartner zufolge bei dem Thema Supply-Chain-Resilienz soweit sein. Mit einer schnellen Umsetzung bei vielen Unternehmen rechnen die Experten also eher nicht.

Die sich ständig verändernde Dynamik zwingt die Supply Chain Manager vermehrt zu der Frage: „Was wäre, wenn?“. Prof. Markus Brunnermeier von der Princeton University, einer der weltweit führenden Makroökonomie-Forscher und Autor des Buches „Die resiliente Gesellschaft“, sieht in einer Welt voller Schocks nur einen Ausweg – und das ist die Resilienz. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Oft wird der Begriff mit Robustheit gleichgesetzt. Für Brunnermeier gibt es da aber Unterschiede. „Robustheit heißt fehlertolerant, widerstandsfähig zu sein. Was auch immer passiert, man bewegt sich nicht.“ In der Natur stehe dafür zum Beispiel die Eiche. Die allerdings könne bei einem zu starken Sturm umkippen. Ein Merkmal der Resilienz hingegen sei, dass zum Beispiel ein System erst einmal nachgibt, dann aber fähig ist, durch schnelles Reagieren und Anpassen wieder in den – möglicherweise neuen – Normalzustand zurückzufedern. Es sei eher wie beim Schilfrohr, das sich biegt, aber nicht bricht – und damit letztlich stabiler ist als die Eiche.

Die richtigen Risiken eingehen

Resilienz erfordere auch andere Formen von Redundanzen, sagt Brunnermeier. Während Robustheit für jede Krise einen Puffer braucht, benötigt ein Resilienzmanagement wegen der Flexibilität weniger Reserven. Wer resilient sei, könne auch mehr Risiken eingehen und so letztlich im Durchschnitt stärker wachsen als auf einem risikofreien Pfad, sagt er und fügt hinzu: „Eine Strategie, die auf dem Vermeiden von Risiken basiert, ist sehr kontraproduktiv.“

Allerdings gebe es auch Resilienzzerstörer. Das seien im Wesentlichen drei: Fallen, also Punkte, an denen es kein Zurück mehr gibt, dann Rückkopplungseffekte, die Schocks noch verschlimmern können, sowie sogenannte Kipppunkte, wie es sie zum Beispiel im Klimasystem gibt und bei deren Überschreiten sich ein negativer Trend beschleunigt. „Man muss also aufpassen, dass man auch die richtigen Risiken eingeht. Man kann sich nicht alles erlauben“, betont Brunnermeier. Diese Abschätzung könne allerdings sehr schwierig sein, weil zum Beispiel nicht immer klar sei, was man sich noch leisten kann, bevor der Kipppunkt erreicht ist.

Gerade mit Blick auf den Klimawandel und dessen Folgen, auch für die globalen Lieferketten, wird Resilienz zur Notwendigkeit. Aber noch aus einem anderen Grund ist es wichtig, dass Unternehmen mit Störungen umgehen können müssen: Die Ansprüche der Kunden übertragen sich zunehmend aus der B2C-Welt, in der vor allem Amazon den Ton angibt, auf das B2B-Geschäft. Das heißt, ein Unternehmen erwartet wie ein Konsument unmittelbare Verfügbarkeit und eine zuverlässige und pünktliche Lieferung, auch in schwierigen Zeiten. Und dabei wollen Unternehmen den gleichen Informationsstand über den Status und den Standort ihrer Waren in der Produktion haben wie die Verbraucher über ihre Sendungen auf dem Weg zum Briefkasten.

Transparenz ist das A und O, auch um überhaupt zielgerichtet in ein Resilienzmanagement investieren zu können. Denn gleichzeitig dürfen Führungskräfte die Kosten nicht aus den Augen verlieren. Die Digitalisierung gilt daher als Schlüsselfaktor. Hier können Investitionen auch helfen, das oberste Ziel der Logistik zu erreichen: mehr Pünktlichkeit bei möglichst geringen Kosten pro Sendung und kurzen Laufzeiten.

Top-Thema beim Deutschen Logistik-Kongress

„Erfolgreiche Strategien zum Aufbau der Resilienz der Lieferkette“ stehen am Donnerstagvormittag in einer Sequenz beim Deutschen Logistik-Kongress in Berlin im Mittelpunkt. Es sprechen aus der Industrie Audis Supply-Chain-Leiter Dieter Braun sowie Michael Ulverich, der COO des Druckmaschinenherstellers Koenig & Bauer. Mit dabei sind zudem Christine McKechnie von Coupa Software und Jan Hoffmann von der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD).

Mehr digitale Technik im Einsatz

Viele Unternehmen haben es nach Einschätzung der Berater von McKinsey versäumt, ihre Lieferketten resilienter zu machen. „Öfter als geplant erhöhten sie nur die Lagerbestände, statt auf langfristig effektive Maßnahmen wie die Regionalisierung von Zulieferern zu setzen“, kritisieren sie. McKinsey hatte 2020 und 2021 weltweit etwa 70 Supply Chain Manager führender Unternehmen befragt. Während 40 Prozent die Regionalisierung und den Ausbau ihrer Lieferantenbasis geplant hatten, haben dies schließlich doch nur 15 Prozent auch in die Tat umgesetzt. Stattdessen bauten 42 Prozent ihre Bestände aus. Allerdings haben 80 Prozent in digitale Technik investiert: Echtzeit-Monitoring und auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Analytik kommen laut McKinsey heute deutlich häufiger zum Einsatz als zu Beginn der Pandemie. Laut Umfrage haben derzeit aber nur 1 Prozent der befragten Unternehmen genügend IT-Personal. Der Fachkräftebedarf werde „noch mehr zum Flaschenhals“, sagt Vera Trautwein, McKinsey-Expertin für Lieferkettenmanagement.

Eine KI lernt auf Basis von Daten, Abweichungen zu erkennen. Geschieht dies frühzeitig, lässt sich gegensteuern, ohne dass zum Beispiel ein Band gestoppt werden muss. Die Lösungen können zudem mögliche Ursachen aufdecken und bestenfalls noch Maßnahmen zur Optimierung vorschlagen. Ein zukunftsorientiertes Supply Chain Management stelle Transparenz und Datenaustausch in den Mittelpunkt, sagt Gabriel Werner, Vice President Manufacturing für die DACH-Region beim Softwareanbieter Blue Yonder. Dabei werde nicht darauf gehofft, dass die Lieferkette so funktioniert, wie sie geplant wurde. Vielmehr werde anhand gesammelter Daten ständig nachgesteuert, und zwar stark automatisiert.

Auch Fraunhofer bietet IT-Lösungen, die Problemen entgegenwirken. So entwickelt ein Team am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM Methoden, mit deren Hilfe sich berechnen lässt, wie Risiken für Lieferketten minimiert werden können. „Diese disruptiven Ereignisse schaffen ein mehrdimensionales Entscheidungsproblem“, sagt Heiner Ackermann, stellvertretender Abteilungsleiter „Optimierung – Operations Research“. Seine Fachleute ermitteln mit Hilfe von Mathematik die bestmögliche Lösung für das Dreigespann Resilienz – Kosten – Risiko. Algorithmen errechnen die optimale Balance und damit verschiedene Optionen für Rohstoffe, Lieferanten und Lagerhaltung. Auch der Einsatz alternativer Materialien wird berücksichtigt.

Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) unterstützt mit seinem Order-To-Delivery-Network-Simulator. Das Tool bilde selbst hochkomplexe Supply Chains komplett und mehrstufig inklusive der Planungs- und Informationsflussprozesse ab. „Ich kann in der Simulation leicht mit Bedarfsspitzen, dem Einbruch eines Marktes oder mit Szenarien spielen, in denen die Produktion gestört ist“, sagt Marco Motta, Abteilungsleiter Supply Chain Engineering. So lasse sich auch prognostizieren, wie eine Lieferkette im Ausnahmezustand reagiert. Disponenten sehen in logistischen Assistenzsystemen, die einen digitalen Zwilling der Supply Chain mit Simulation verbinden, welche Frachtschiffe welche Teile geladen haben, wo sich diese befinden und wann die Ladung am Bedarfsort verfügbar ist. So kann in globalen Netzen die Versorgung der kommenden 20 bis 30 Wochen dargestellt werden. Damit lassen sich frühzeitig potenzielle Engpässe erkennen.

Im Forschungsprojekt Co-Versatile arbeiten die Beteiligten daran, die Resilienz der europäischen Fertigungsindustrie für künftige Pandemien zu steigern. Schnell und effektiv soll die Lieferkette auf eine plötzlich steigende Nachfrage im Bereich strategischer Medizinprodukte reagieren können. Hierzu entwickelten die IML-Experten ein Simulationsmodell, das Nachfragespitzen und -schwankungen sowie Lieferantenrisiken mitdenkt. Die Unternehmen erhalten umgehend einen Überblick, welche Effekte auf sie zukommen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Kapazitäten, Vorlaufzeiten, Transportfrequenzen und möglichen Liefereinschränkungen.

Stresstest für Lieferketten?

Mit dem White Paper „RESYST“ haben zudem gerade 17 Fraunhofer-Institute das Verständnis für eine resiliente Wertschöpfung vertieft. Resilienz werde zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor – „und damit auch zur strategischen Aufgabe für die Unternehmensführung“, schreiben die Autoren. Es sei damit zu rechnen, dass in den nächsten zehn Jahren auch in Deutschland aufgrund externer Störungen weitere Krisen entstehen. Als mögliche Ursachen nennen die Fraunhofer-Forscher Entwicklungen im globalen Finanzsystem, mögliche Handelskonflikte, Energie- oder Versorgungsengpässe, Klimaveränderungen, soziale Ungleichheiten und demografische Entwicklungen oder auch die drohende Überbevölkerung. „Durch die Digitalisierung und globale Vernetzung steigen die Komplexität und die Abhängigkeit der Subsysteme untereinander. Hier drohen gefährliche Kaskadeneffekte“, warnen die „RESYST“-Autoren.

Eventuell sollten Lieferketten einem Stresstest unterzogen werden, ähnlich wie bei den Banken, sagt Princeton-Professor Brunnermeier. Auch eine Abkehr vom Just-in-time-Prinzip hin zu just in case bringt er ins Spiel. Dann würde sich endgültig alles um die Frage drehen: Was machen Unternehmen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert?

Dieser Artikel ist erstmals am 4. Januar 2022 auf DVZ.de erschienen. Wir wiederholen den Beitrag anlässlich des Deutschen Logistik-Kongresses in Berlin.

Buchtipp

Markus Brunnermeier, einer der weltweit führenden Makroökonomie-Forscher, zeigt in seinem Buch, wie die Gesellschaft nach der Corona-Krise mehr Resilienz aufbauen kann: „Die resiliente Gesellschaft“, Gewinner des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises 2021, 24 Euro (Hardcover), 6,99 Euro als E-Book.
 

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