Neue Realitäten

Datenbrillen im Lager, virtuelle Trainings: Augmented und Virtual Reality haben das Potenzial, Logistikprozesse zu optimieren. Bislang finden sich die neuen Anwendungen aber eher in Marketing und Vertrieb.

Picavi ist ein Anbieter von Datenbrillen samt der dahinter liegenden Software, die bereits im logistischen Umfeld eingesetzt werden. Die Hilfsmittel kommen vor allem im Lager zum Einsatz. (Foto: Picavi)

Es mutet an wie aus einem Science-Fiction-Film, wenn die Picker des Logistikers Fiege zur Arbeit schreiten. Am Standort in Worms unterstützt sie seit ein paar Monaten ein futuristisches Helferlein bei der Arbeit: eine Datenbrille, die die Mitarbeiter durch den gesamten Kommissionierungsprozess führt. Das Gerät projiziert ein digitales Anzeigenfeld vor das rechte Auge des Trägers. Und das leitet ihn zum richtigen Stellplatz, scannt Barcodes und korrigiert ihn bei Fehlern.

Die Vorteile: Der Werker hat beide Hände frei und kann sich auf das Greifen der Ware konzentrieren. Außerdem seien die Einsatzmöglichkeiten im Vergleich zu anderen Systemen größer. „Wir bilden mit der Datenbrille zum Beispiel die Schadensdokumentation mithilfe der integrierten Kamera ab“, sagt Jens Ritscher, der bei Fiege das Pilotprojekt betreut. Bis zu 40 seiner Mitarbeiter arbeiten mit der Datenbrille, verteilt auf drei Schichten.

Pick-by-Vision von Picavi

Einer der größten Anbieter dieser sogenannten Pick-by-Vision-Lösung ist Picavi. Das Unternehmen aus Herzogenrath verspricht mit seinem System nicht nur den Pickern eine Entlastung, sondern auch betriebswirtschaftliche Vorteile. „Kunden, die vorher mit Papier-Picklisten gearbeitet haben, konnten die Produktivität um 40 Prozent steigern“, sagt Johanna Bellenberg, Director Marketing and Communications bei Picavi. Gegenüber Handhelds liege die Einsparung bei etwa 10 bis 15 Prozent. Und auch die weit verbreitete Technologie Pick-by-Voice, also die Kommissionierung per Sprachanweisung, werde von der Datenbrille überholt, verspricht der Anbieter. Je nach Prozess und Pickdichte sei hier eine Einsparung von 5 bis 10 Prozent möglich.

Welche Investitionskosten auf die Unternehmen für ein Pick-by-Vision-System zukommen, variiere stark, betont Bellenberg. Picavi vertreibt die Datenbrille als schlüsselfertiges System. Neben den Geräten gehört etwa auch die Installation der Software und die Inbetriebnahme dazu. Der Aufwand unterscheide sich dabei je nach Projekt, sagt Bellenberg. Eine Summe könne sie daher nicht nennen.

Über 50 Logistikfirmen hat Picavi bereits mit seinem System ausgestattet. Die Datenbrille ist Teil einer Technologie, die derzeit einen großen Aufschwung erlebt: Augmented Reality, die erweiterte Realität oder meist nur kurz AR. Über die reale Welt werden digitale Zusatzinformationen gelegt – beispielsweise mithilfe einer Brille.

Datenbrillen für Logistik-Anwendungen

Das Potenzial der Datenbrillen scheint mit dem Einsatz im Warehouse Management aber noch nicht ausgeschöpft. DHL hat Ideen für weitere Einsatzfelder entwickelt und in einem Trendbericht aufgezeigt. Ein vielversprechendes Beispiel sind etwa Completeness Checks. AR-Systeme sollen Lieferungen künftig automatisch auf Vollständigkeit überprüfen können. Was bislang noch manuelles Zählen oder aufwendige Barcode-Scans mit einem Handheld-Gerät erfordert, könnte die Datenbrille übernehmen. Mehrere 3-D-Tiefensensoren und Scanner des Geräts zählen die Einzelteile einer Lieferung oder bestimmen deren Volumen, so das Konzept. Ein weiterer Vorteil: Das System könnte die Lieferung gleichzeitig auf äußere Schäden untersuchen.

Auch Lieferungen ins Ausland könnte die Datenbrille erleichtern. Vor einem Transport überprüft das Gerät, ob die Sendung auch den Exportvorschriften des jeweiligen Landes entspricht oder Handelsdokumente korrekt ausgefüllt wurden – relevant vor allem für Ausfuhren in Schwellenländer mit komplexen oder weniger bekannten Handelsregularien. Die Datenbrille kann mithilfe der dahinterstehenden Software Dokumente oder Waren nach Schlüsselwörtern durchsuchen und in Echtzeit übersetzen. Änderungsvorschläge bekommt der Anwender direkt auf das Anzeigenfeld vor seinem Auge projiziert.

Noch Zukunftsmusik, aber vorstellbar ist, den Empfänger automatisch zu identifizieren. Per Knopfdruck scannt die Datenbrille sein Gesicht und gleicht es mit einer Foto-Datenbank ab, so die Vorstellung. Das könnte eine Unterschriften- oder Ausweiskontrolle künftig überflüssig machen. Allerdings: Aufgrund der üblichen Gesetze zum Datenschutz müsste der Empfänger vorab eine Erlaubnis zum Speichern erteilen. Für den alltäglichen Einsatz wäre diese Technik also möglicherweise nichts, schreiben die Autoren der Studie. Bei besonders wertvollen Einzellieferungen bringe die AR-Gesichtserkennung aber durchaus Vorteile. So könnte der Absender einer Lieferung immerhin nicht mehr durch eine gefälschte Unterschrift überlistet werden – etwa von einem Betrüger, der sich als Empfänger ausgibt.

AR-Systeme werden sich durchsetzen

Dass sich AR-Systeme wie Datenbrillen im Arbeitsalltag langfristig durchsetzen, darüber sind sich Marktforscher einig. So schätzt etwa das US-Institut Forrester, dass 2025 über 14 Mio. Arbeiter mit Datenbrillen ausgestattet sein werden – und das allein in den USA. Hierzulande ruft das Behörden auf den Plan, sich vorsorglich mit den gesundheitlichen Aspekten der Geräte zu befassen, darunter auch die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Baua). „Welche Auswirkungen das dauerhafte Tragen von Datenbrillen auf den Nutzer genau hat, können erst Langzeitstudien zeigen“, sagt Jan Terhoeven, Baua-Referent im Bereich Human Factors und Ergonomie. Nach ersten Laborversuchen gebe es jedoch keine Anzeichen für unmittelbare Gesundheitsschäden.

In den Tests schauten sich die Studienleiter unter anderem an, wie das dauerhafte Tragen die Augen und die Nackenmuskulatur beeinflusst. Dabei verglichen sie die Datenbrille mit dem Einsatz eines Tablets. „Objektiv war die Mehrbeanspruchung im Vergleich zum Tablet-PC zwar eher klein“, sagt Terhoeven. „Allerdings empfanden die Probanden eine höhere Beanspruchung bei der Nutzung einer Datenbrille.“ So klagten einige Arbeiter über schwere Augen oder Kopf- und Nackenschmerzen. Es zeigte sich also ein deutlicher Unterschied zwischen objektiver und gefühlter Beanspruchung durch Datenbrillen.

Der Grund könnte ganz einfach sein: Die Nutzer sind noch nicht an den Umgang mit den Geräten gewohnt. „Das Tablet gehört mittlerweile zur Alltagstechnologie“, sagt Terhoeven. Eine Datenbrille sei dagegen für viele etwas Neues. Aber auch die könne langfristig zur Gewohnheit für potenzielle Anwender werden. Für Anbieter von Datenbrillensystemen wie Picavi ist die Auswahl des richtigen Modells entscheidend. Schließlich komme die Brille dort zum Einsatz, wo lange Schichten und durchgehender Schichtbetrieb zum Alltag gehören. Das aktuell beste Modell sei die Glass Enterprise Edition von Google, sagt Picavi-Sprecherin Bellenberg. Denn die wiege mit rund 42 g in etwa so viel wie eine normale Sichtbrille.

AR - VR und dann?

Neben Augmented Reality ist eine weitere Technologie auf dem Vormarsch: Virtual Reality, die virtuelle Realität oder kurz VR. Auch hier kommen Brillen zum Einsatz, die allerdings deutlich größer und blickdicht sind. Ein Blick durch das Hilfsmittel versetzt den Nutzer in eine neue dreidimensionale Welt, völlig abgeschieden von seiner realen Umwelt. Mehrere Sensoren verfolgen seine Position im virtuellen Raum. Geht er in der realen Welt einen Schritt nach vorn, bewegt er sich auch virtuell.

Was bislang vor allem bei Computerspiel-Fans beliebt war, entdecken nun auch immer mehr Unternehmen als hilfreiches Firmen-Tool – so auch der Automobilhersteller Audi. Das Ingolstädter Unternehmen nutzt VR seit einigen Monaten für Mitarbeitertrainings in der Verpackungslogistik. Setzt der Werker die VR-Brille auf, sieht er eine detailgetreue Nachbildung seines Arbeitsplatzes. In den Händen hält er jeweils einen Controller. Damit kann er die virtuellen Abbilder seiner Arbeitsmittel bewegen. Karton bereitstellen, Sonnenblenden hineinlegen, Etikett kleben: Der Mitarbeiter durchläuft Schritt für Schritt verschiedene Verpackungsprozesse, wie sie auch in der Realität stattfinden. „Die virtuelle Darstellung ist sehr nah an den tatsächlichen Arbeitsabläufen“, sagt Unternehmenssprecherin Sabine Taner. Für die Darstellung in der virtuellen Realität habe das Unternehmen bereits vorhandene 3D-Daten von Originalteilen und Betriebsmitteln verwendet. Und das sorge für einen wirklichkeitsgetreuen Eindruck.

Der Vorteil: Audi spart kostbare Fläche sowie Zeit und Geld. Denn für das VR-Training werden keine echten Bauteile und Behälter mehr benötigt. Zudem biete es eine unmittelbare Erfolgskontrolle. Bei Bedarf könne der Nutzer jede Übung beliebig oft wiederholen.

Know-How ist wichtig

Nach Angaben des Unternehmens haben bereits rund 300 Mitarbeiter das Lernprogramm genutzt. Zwei Prozesstrainings seien nach einer sechsmonatigen Pilotphase nun fest in der CKD-Logistik im Einsatz. Audi setze das Programm unter anderem zum ersten Anlernen neuer Mitarbeiter ein. „Aber auch langjährige Mitarbeiter können damit beispielsweise veränderte Abläufe üben“, sagt Taner.

Dass digitales Lernen bisherige Aus- und Weiterbildungskonzepte komplett ersetzen wird, glaubt man beim Automobilhersteller allerdings nicht. Audi sieht das VR-Training nur als Ergänzung. „Auch der persönliche Austausch und die damit verbundene Vernetzung unter Kollegen sind wichtige Aspekte der betrieblichen Weiterbildung“, sagt Taner. Deshalb stehe beim VR-Programm immer ein Trainer zur Seite, der über ein Tablet die Trainingsfortschritte verfolgt.

Erste Projekte zeigen, wie AR und VR die Abläufe in der Logistik verändern können. Bis sich konkrete Anwendungen aber im Arbeitsalltag etablieren, scheint es noch zu dauern. Heute dient nämlich mehr als jede zweite AR- und VR-Anwendung dem Marketing oder dem Vertrieb eines Unternehmens. Im Transport- und Lagermanagement kommen gerade einmal 1 Prozent der heute eingesetzten Tools zum Einsatz. Das hat eine Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG ergeben, die 260 verschiedene Anwendungsfälle untersucht hat. VR und AR hätten sich zunächst in den Bereichen durchgesetzt, in denen es „anfassbare Produkte“ gibt, sagt Markus Deutsch, Leiter Customer bei KPMG und Mitautor der Studie. „In der Transport- und Logistikbranche steht das nicht so stark im Vordergrund.“ Deutsch glaubt aber, dass die Branche aufholt. „Wir sind der Meinung, dass beide Technologien im Zuge der Automatisierung von Logistikprozessen eine wesentliche Rolle einnehmen werden.“

Welche Anwendungen sich dabei etablieren, lasse sich aber nicht präzise vorhersagen, betont er. „VR und AR gehen mit Prozessautomatisierungen, additiven Produktionsmethoden und lernenden Algorithmen einher“, sagt Deutsch. Ein Durchbruch der Technologien könne also nur in Verbindung mit einer Veränderung ganzer Prozesse funktionieren. Und am wahrscheinlichsten, sagt Deutsch, erscheine dies zurzeit in der Qualitätssicherung – oder eben in der Lagerlogistik. (sr)

Was ist was?

 AR, VR und MR – neue Formen der Realitätswahrnehmung befinden sich im Aufschwung. Doch nicht immer sind die Unterschiede klar. In der Augmented Reality, also der erweiterten Realität oder kurz AR, werden digitale Elemente wie Bilder oder Animationen in die reale Welt eingebunden. Über eine Datenbrille bekommt der Nutzer beispielsweise zusätzliche Informationen in Echtzeit vor sein Sichtfeld projiziert. Virtual Reality, also die virtuelle Realität oder kurz VR, versetzt den Nutzer mithilfe einer speziellen VR-Brille in eine völlig neue und computergenerierte Welt, abgeschieden von der realen Umwelt. Ein Grenzfall sind 360-Grad-Videos. Sie lassen sich als Vorstufe zur virtuellen Realität bezeichnen. Statt einer in Echtzeit berechneten Welt sieht der Nutzer hier lediglich ein Video mit 3-D-Gefühl. Langfristig gehen Marktforscher davon aus, dass die Anwendungen aus erweiterter und virtueller Realität miteinander verschmelzen werden. Das Zusammenspiel beider Technologien nennt sich dann „Mixed Reality“, also vermischte Realität, kurz MR.

„Der Trend geht zur Dienstbrille“ – Experten prognostizieren rasantes Wachstum

„Der Trend geht zur Dienstbrille“: So lautet das Fazit einer gemeinsamen Studie der Unternehmensberatung Deloitte, des Forschungsinstitutes Fraunhofer FIT und des IT-Verbandes Bitkom zum Potenzial der neuen Technologie aus dem Jahr 2016. Für den B2B-Bereich in Deutschland werden 841 Mio. EUR Umsatz bis 2020 prognostiziert. Eine Aufschlüsselung nach Branchen gibt es indes nicht. Aber: „Der Logistikbereich gilt als das kurzfristig vielversprechendste B2B-Anwendungsgebiet für Head Mounted Displays“, heißt es in der Studie. Prozesse ließen sich deutlich optimieren. (sr)

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