Kontrolle von EU-Sozialvorschriften: Sisyphusarbeit an der Autobahn
Der erste Lkw, den er mit seinem Kollegen an diesem windigen Tag herauswinkt, sei schon ein „typischer Fall“, sagt Raymond Lausberg, Erster Hauptinspektor bei der belgischen Autobahnpolizei in Battice bei Lüttich. Das Fahrzeug ist in Litauen zugelassen, auf dem Auflieger steht kein Firmenname, er glänzt weiß. „Weiß wie die Unschuld“, sagt Lausberg. Er hat allerdings festgestellt, dass Transportunternehmen, die ihm in der Vergangenheit besonders als schwarze Schafe aufgefallen sind, seit einiger Zeit auf ihre Firmenlogos verzichten.
Auch diesmal werden die Beamten schnell fündig, als sie auf dem Rastplatz Aire de Tignée überprüfen, ob gegen Vorschriften aus dem EU-Mobilitätspaket für den Straßengüterverkehr verstoßen wurde: Heimkehr des Lkw-Fahrers spätestens nach vier Wochen, Rückkehr des Fahrzeugs an den Niederlassungsort spätestens nach acht Wochen, Übernachtung außerhalb des Lkw bei den langen Wochenruhezeiten von 45 Stunden, Beschränkungen von Kabotagetransporten und Mindestlohnzahlung bei bestimmten Einsätzen im EU-Ausland.
Sprach-App hilft bei Befragung
Zunächst fällt Lausberg auf, dass der Tacho des Lkw in Deutschland geeicht ist und auch zwei Hauptuntersuchungen in Deutschland gemacht wurden. Für dieses deutsche Angebot an ausländische Transporteure hat der belgische Polizist wenig Verständnis, denn schließlich gebe es ja jetzt eine Lkw-Heimkehrpflicht alle acht Wochen. Der Fahrer, ein junger Mann aus Belarus, erzählt dann noch, dass er den Lkw in Deutschland übernommen hat. Kommuniziert wird mithilfe einer App auf dem Smartphone, die zwischen Russisch und Französisch hin und her übersetzt.
Datenanalyse zeigt Verstöße
Anschließend schaut sich Lausberg die Angaben auf der Fahrerkarte auf seinem Laptop an und lädt Daten aus dem Massenspeicher des Lkw herunter, rückwirkend bis Anfang Juni 2023. Dieser Vorgang dauert etwa 15 Minuten; noch weiter in die Vergangenheit zu schauen, würde noch mehr Zeit brauchen. „Ich glaube nicht, dass viele Polizisten in Europa diese Massenspeicherdaten kontrollieren“, sagt Lausberg. Auf dem Bildschirm der Polizisten erscheinen viele bunte Balken, aus denen sich ein ziemlich genaues Bild der Aktivitäten von Lkw und Fahrer ergibt. Man kann sehen, seit wann der Fahrer auf Tour ist, wo der Lkw war, wann gefahren wurde, wann Pausen gemacht und wann andere Arbeiten erledigt wurden wie Laden, Entladen, Lkw-Reinigung oder Dokumentation.
Nach kurzer Analyse kommen Lausberg und sein Kollege zu dem Schluss: Der Fahrer ist seit über fünf Wochen auf Tour, der Lkw war mindestens in den betrachteten sieben Monaten ausschließlich in Westeuropa unterwegs und niemals in Litauen. Da von Deutschland aus gestartet wurde, hätte laut Lausberg der deutsche Mindestlohn gezahlt werden müssen. „Der Fahrer hat mir erzählt, dass er 70 Euro am Tag bekommt“, sagt der Polizist. Er erklärt dem jungen Mann, dass ihm sein Arbeitgeber bei einem Zehn-Stunden-Tag zu deutschem Mindestlohn dann noch etwa 54 Euro pro Tag schuldet und gegen die EU-Entsenderegeln für Lkw-Fahrer verstößt. „Meine Taktik ist, den Fahrern immer direkt zu sagen, dass ich nicht sie bestrafen will, sondern herausfinden möchte, wie ihr Arbeitgeber mit ihnen umgeht“, erklärt Lausberg.
Bußgeldkatalog ist unvollständig
Konfrontiert mit den Daten auf dem Polizeicomputer räumt der Fahrer relativ schnell ein, dass er seine langen Wochenruhepausen im Lkw verbracht hat. Dafür gibt es in Belgien ein Bußgeld von 1.800 Euro für das Unternehmen. Insgesamt verhängt Lausberg nach der Kontrolle ein Bußgeld von 2.750 Euro. Eigentlich müsste es noch mehr sein, aber für einige Verstöße, etwa gegen die Lkw-Rückkehrpflicht, gibt es in Belgien noch keine Regelung. „Wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht“, bemängelt der Hauptinspektor. „Stand heute wurde das EU-Mobilitätspaket in keinem einzigen EU-Staat komplett in nationales Recht übernommen, beziehungsweise es fehlen die Bußgeldkataloge dazu.“ Wollen sie Verstöße gegen die Lkw-Rückkehrpflicht sanktionieren oder den ausstehenden Fahrerlohn eintreiben, müssen die Polizisten einen Staatsanwalt finden, der bereit ist, ein entsprechendes Gerichtsverfahren anzustoßen.
Unternehmen zahlen meist sofort
Doch so weit lassen es die Transportunternehmen meist nicht kommen. In diesem Fall hat der junge Fahrer nach einer knappen halben Stunde die Erlaubnis des Arbeitgebers, mit der Firmenkreditkarte das Bußgeld vor Ort zu zahlen. Damit gibt es kein Verfahren und der Lkw kann weiterfahren. Später am Tag gerät noch ein weiteres Fahrzeug desselben Unternehmens in die Kontrolle. Die Verstöße sind ähnlich, der Fahrer ist sogar bereits seit über zehn Wochen auf Tour. Insgesamt zahlt dieser eine Arbeitgeber an dem Tag in Tignée rund 6.000 Euro Strafe. Das sei alles eingepreist, meint Lausberg.
Dass es auch anders geht, zeigt die Überprüfung eines polnischen Fahrzeugs mit litauischem Auflieger, ebenfalls ohne Firmenlogo. Die Analyse der Daten ergibt: Der Fahrer aus Belarus hat zuletzt Touren von jeweils drei Wochen gefahren mit zwei verkürzten Wochenruhezeiten. Er ist dazwischen mit dem Lkw nach Polen zurückgekehrt und hatte 21 Tage frei. Das entspricht alles den Vorgaben des EU-Mobilitätspakets.
Die Bilanz des Tages sieht für Lausberg so aus: Nur zwei von sieben kontrollierten Lkw waren „sauber“. Dreimal wurde gegen das Kabinenschlafverbot verstoßen, je zweimal gegen das Heimkehrrecht des Fahrers und die Lkw-Rückkehrpflicht. Dreimal haben Fahrer ihre Anreise zum Dienstort – etwa aus Usbekistan nach Deutschland – nicht manuell als Arbeitszeit auf der Fahrerkarte nachgetragen. Für Letzteres verhängt Lausberg selten das Maximalbußgeld von 1.320 Euro, weil die Fahrer das manchmal aus der eigenen Tasche zahlen müssten. Insgesamt kassiert die Autobahnpolizei in Tignée an diesem Tag 9.155 Euro Bußgeld.
„Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Lausberg, obwohl er eine „Trefferquote“ von etwa 80 Prozent vorweisen kann. Aber: „Auf der E40 kommen 2,5 Millionen Lkw pro Jahr hier vorbei, und ich kann mit meinem kleinen Trupp noch nicht einmal 700 auf die Einhaltung der Sozialvorschriften kontrollieren.“ In den EU-Staaten fehle der Wille, das Mobilitätspaket durchzusetzen. Die Unternehmen, die die Regeln ignorierten, „können machen, was sie wollen“. Die Zeche müssten die ehrlichen Transportunternehmen zahlen, die im Wettbewerb kaum bestehen könnten. „Ich nehme an, dass die Industrie Beifall klatscht, wenn wir denen Güter so billig vor die Tür stellen“, sagt Lausberg.
Ob die Polizisten aus Battice demnächst mehr Unterstützung bekommen, ist ungewiss. Sieben EU-Staaten haben beim Europäischen Gerichtshof 15 Klagen gegen das Mobilitätspaket eingereicht. EuGH-Generalanwalt Giovanni Pitruzzella hat den Richtern im November empfohlen, die Lkw-Rückkehrplicht für nichtig zu erklären. Ein Urteil des EuGH wird in diesem Frühjahr erwartet.
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