Weshalb Lkw-Fahrer nicht streiken
Warum machen wir das nicht? Darüber diskutieren Lkw-Fahrer in den sozialen Medien, nachdem die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) jüngst in Streik getreten ist.
Schließlich gäbe es ja genügend Missstände und Forderungen, die die Berufsgruppe vorzubringen hat; vom Lohn über die Arbeitsbedingungen bis zur gesellschaftlichen Wertschätzung. Darüberhinaus wären die Folgen eines flächendeckenden Streiks von Lkw-Fahrern derart weitreichend, dass sie nur erahnt werden können. Neben sich schnell einstellenden Engpässen von Konsum- sowie Gebrauchsgütern wären auch nahezu alle Lieferketten des Landes gestört, was unvorhersehbare Auswirkungen auf die Industrieproduktion hätte. Von den Kosten ganz zu schweigen. Es ließe sich also ohne Übertreibung sagen, dass Lkw-Fahrer an einem extrem langen Hebel sitzen – zumindest in der Theorie.
Kein politischer Streik möglich
In der Praxis sieht das allerdings etwas anders aus. Zwar gebe es in Deutschland nicht direkt ein Streikgesetz, aber dennoch rechtliche Vorraussetzungen, die gegeben sein müssen, um die Arbeit niederzulegen zu dürfen, erklärt Volker Ernst, Fachanwalt für Arbeitsrecht der Canzlei in Braunschweig.
Demnach ist ein Streik als „Mittel zur Erzwingung“ von – rechtlich zulässigen – Tarifverträgen definiert. „In der Bundesrepublik ist das Aushandeln solcher Tarifverträge allein den Gewerkschaften vorbehalten. Diese müssen darüberhinaus ein tariflich regelbares Ziel verfolgen wie Lohn oder Arbeitszeiten. Politisch motivierte Streiks seien anders als beispielsweise in Frankreich hierzulande ausdrücklich verboten“, sagt Ernst. Weiterhin gilt eine Gewerkschaft erst als streikfähig, wenn sie über eine gewisse Macht verfügt, die sich aus dem Organisierungsgrad ergibt. Der Grundsatz lautet also: Je mehr Gewerkschaftsmitglieder, desto größer der Hebel gegenüber dem Arbeitgeberverband.
Unterschiede zum GDL-Streik
Konkret auf Lkw-Fahrer bezogen ergeben sich hier bereits deutliche Unterschiede im Vergleich zur GDL. Denn ein Tarifvertrag mit bundesweiter Bindung lässt sich in diesem Fall nicht aushandeln, weil die Tarifgebiete der Branche dezentral organisiert sind und somit nur Verhandlungen für die jeweiligen Gebiete geführt werden können. Ausnahme könne eine sogenannte Tarifgemeinschaft sein, sagt Ernst. Dabei können Tarifvereinbarungen aus sogenannten Pilotabschlüssen in Bundesland A von anderen Bundesländern anschließend übernommen werden. In der Vergangenheit erreichte die IG Metall oft derartige Vereinbarungen.
Grundsätzlich denkbar wäre auch eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE), bei der alle in einem zuvor zwischen Gewerkschaft und Arbeitgeberverband ausgehandelten Tarifvertrag festgeschriebenen Rechtsnormen für alle Arbeitgeber sowie Arbeitnehmer – völlig unabhängig, ob sie zuvor tarifgebunden waren – innerhalb des Geltungsbereichs verbindlich sind. Voraussetzung für eine solche Allgemeinverbindlichkeitserklärung wäre allerdings, dass die Landesarbeitgeberverbände ihr Mandat für Tarifverhandlungen an den Bundesverband – BGL oder DSLV – abtreten.
Dezentrale Tarifverhandlungen
Der Gesamtverband Verkehrsgewerbe Niedersachsen (GVN) hält allerdings nichts davon, diese Verantwortung abzutreten, wie Uwe Garbe, Spartengeschäftsführer Spedition und Logistik beim GVN, auf Anfrage erklärt: „Die Abbildung von regionalen Situationen und Besonderheiten gelingt aus unserer Sicht am besten bei dezentral und regional geführten Verhandlungen der Sozialpartner.“ Von den Transport- und Logistikunternehmen, die Mitglied im GVN sind – eine Zahl im niedrigen vierstelligen Bereich – sei der Großteil per Satzung mit Tarifbindung. Das ist wichtig, weil die Mitgliedsunternehmen mit Tarifbindung im Falle eines neues Tarifvertrags an diesen gebunden wären. Jene ohne hingegen nicht.
Im Nachinein könne jedoch auch eine nicht-tarifgebundene Mitgliedschaft beantragt werden, sagt Garbe und ergänzt: „Im Güterverkehr sehen wir, dass keine zweistellige Prozentzahl unserer Mitglieder davon Gebrauch gemacht hat und somit ohne Tarifbindung ist.“ Zuletzt sei dahingehend auch kein Trend erkennbar gewesen. Eher das Gegenteil sei der Fall. Garbe schätzt die Chance auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung für den Güterverkehr als gering ein: „Wir gehen davon aus, dass die regulatorischen Rahmenbedingungen und wesentlichen Voraussetzungen des Tarifvertragsgesetzes nicht gegeben sind, da die tarifgebundenen Arbeitgeber nicht 50 Prozent der unter den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer beschäftigen.“
Der DSLV Bundesverband Spedition und Logistik repräsentiert 16 regionale Landesverbände, die die Interessen von rund 3.000 Speditions- und Logistikbetrieben – ein Großteil ist auch in der Straßengüterbeförderung tätig – vertreten. Davon sind allerdings lediglich rund 38 Prozent tarifgebunden. Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) vertritt die Interessen von rund 7.500 Unternehmen, die in den Landesverbänden organisiert sind. Die Verhandlungshoheit für Tarifverhandlungen sieht der BGL weiterhin bei den Landesverbänden. „Das hat sich in den letzten Jahren bewährt“, so der Verband.
Niedriger Organisationsgrad
Aber wie gut sind die Lkw-Fahrer organisiert? Um von einem klaren Verhandlungsauftrag für eine Berufsgruppe zu sprechen, sollten mehr als die Hälfte der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied sein, sagt Stefan Thyroke, Bundesfachgruppenleiter bei Verdi. Nach aktuellem Stand seien aber weniger als 20 Prozent der gemeldeten Berufskraftfahrer bei Verdi organisiert. Ein vergleichsweise kleiner Wert, wenn man bedenkt, dass die Lokführer bei der GDL zu mehr als 80 Prozent organisiert sind.
Das liege zum einen daran, dass die Branche aus vielen kleinen Unternehmen besteht und die Bereitschaft, einen Betriebsrat zu etablieren oder sich für einen Tarifvertrag in der Gewerkschaft zu organisieren, dementsprechend klein sei, sagt der Gewerkschafter. Erschwerend hinzu komme, dass Lkw-Fahrer physisch naturgemäß schwer zu erreichen sind, um sie von den Vorteilen einer Gewerkschaftsmitgliedschaft zu überzeugen.
Dass Verdi in der Logistik erfolgreich Tarifverträge durchsetzen kann, zeige das Beispeil des DHL-Hubs in Leipzig. Dort liege der Organisierungsgrad jenseits der 80 Prozent. Streiks seien gar nicht nötig, weil Forderungen stets nachgekommen werde. Thyroke: „Dieser Zusammenhang zwischen Organisationsgrad und erfolgreichem Tarifabschluss ist bei den Lkw-Fahrern leider noch nicht angekommen.“
Kein Zusammenhalt unter Fahrern
Ein utopischer Wert für Berufskraftfahrer meint Udo Skoppeck, mehr als drei Jahrzehnte Berufskraftfahrer und selbst Verdi-Mitglied. Ein Umstand, der so gewollt sei: „In anderen Ländern wie den Niederlanden bekommt man neben jeden Arbeitsvertrag einen Gewerkschaftsvertrag gelegt. Das führt zu einem erheblich größeren Organisierungsgrad und somit auch zu mehr politischer Macht“, sagt Skoppeck, der seit Jahren Missionarsarbeit bei seinen Kollegen betreibt. Allerdings beiße er sich dabei regelmäßig die Zähne aus. Die Wenigsten würden verstehen, dass die Gewerkschaft erst bei einer großen Anzahl an Mitglieder tätig werden kann. Zudem hätten viele alteingesessene Lkw-Fahrer noch Ressentiments, weil die damals verantwortliche Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) nicht nur weitestgehend tatenlos gewesen sein soll, sondern 1983 eine Streikaktion verpatzte und sich mit Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe konfrontiert sah.
Ein bundesweiter Streik von Berufskraftfahrern für einen einheitlichen Tarifvertrag ist also aus formalen sowie rechtlichen Gegebenheiten nicht möglich. Der Hauptgrund sind aber offenbar die Fahrer selbst, denen es entweder an Vertrauen in die Gewerkschaft oder einem umfassenden Gemeinschaftsgefühl innerhalb ihrer eigenen Berufsgruppe mangelt. Skoppeck ist auch wenig optimistisch, dass sich etwas daran ändert: „Es ist mir sowie zahlreichen anderen nicht geglückt, genügend Menschen hinter dieser Sache zu vereinen und meine Motivation ist heute nah Null.“