Horizontaler Paternoster unter dem Boden
Die Zahl der Staustunden auf der Schweizer Ost-West-Achse zwischen Genfersee und Bodensee nimmt täglich zu. Ausbauten der Autobahnen sind zwar in Agglomerationsnähe geplant, stoßen jedoch auf Widerstände in der Bevölkerung und widersprechen den Klimaschutzzielen. Zudem lösen zusätzliche Fahrspuren die Verkehrsprobleme bei der Feinverteilung in den Ballungsräumen nicht. Die Schiene hat zwar einen verhältnismäßig hohen Anteil von rund einem Drittel der beförderten Tonnagen im und durch das dicht besiedelte Mittelland – dies liegt aber vor allem am Nachtfahrverbot für Lkw.
Die Idee, ein neuartiges, unterirdisches Transportsystem zu schaffen, für das wenig Kulturland geopfert werden muss, ist weder neu, noch stammt sie aus der Schweiz. Aber mit dem Projekt Cargo Sous Terrain (CST) scheint sie nun erstmals Realität zu werden: Ende Januar 2023 begannen Sondierungsbohrungen zur Erkundung des Untergrunds entlang der ersten, 70 Kilometer langen Etappe von Gäu im zentralen Mittelland nach Zürich. In diesem Raum kreuzen sich die beiden Nationalstraßen A1 (Ost-West) und A2 (Nord–Süd). Hier sind große Lager- und Logistikzentren angesiedelt, etwa der Handelskonzerne Migros und Coop, der Schweizerischen Post mit ihren Paket- und Briefverteilzentren von Härkingen und der meisten Straßenlogistiker. Die Industriezone verfügt über Gleisanschlüsse an die Jurasüdfusslinie Olten–Biel.
Aushub und Grundwasser
Mithilfe geologischer Probebohrungen und geophysikalischer Messungen wird gegenwärtig der Untergrund entlang der ersten Teilstrecke erforscht. Dabei wird bis 100 Meter ins Erdreich vorgestoßen. Mit den gewonnenen Erkenntnissen zu Gesteins- wie Grundwasserschichten lassen sich die Bewilligungsverfahren vorantreiben und das Vorprojekt weiterentwickeln. Die Messungen werden noch das ganze Jahr 2023 dauern. Sie sollen verschiedene Erkenntnisse bringen, etwa zur Verwertung des Aushubs und zur Umweltverträglichkeit des Projekts, insbesondere zur Schonung der Grundwasservorkommen.
Automatisiert und privat
CST ist ein Gesamtlogistiksystem für pünktliche Warenlieferungen. Es wird kleinteilige Güter laufend transportieren und verteilen. Die Transporteinheit ist die Europalette, von denen zwei bis vier jeweils auf den unterirdisch automatisch mit einer kontinuierlichen Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde zirkulierenden Fahrzeugen Platz finden. Das Rückgrat des Systems bildet ein im Endausbau 490 Kilometer langes Tunnelsystem von Genf bis St. Gallen und von Basel nach Luzern, mit einem zusätzlichen Ast, der Bern mit Thun verbindet. Die Inbetriebnahme des ersten Abschnitts ist für 2031 vorgesehen.
„Das Projekt Cargo Sous Terrain ist absolut notwendig für eine funktionierende Transportinfrastruktur in der Zukunft. (...) Die Schweiz hat das Know-how, wie man Großprojekte realisiert." Adolf Ogi, SVP-Politiker und von 1988 bis 1995 in der Schweizer Regierung (Bundesrat) für Verkehr zuständig
CST ist ein rein privat finanziertes Unternehmen. Die Kosten für den ersten Abschnitt sind mit 3 Milliarden Schweizer Franken (3,07 Milliarden Euro) veranschlagt. Zu den Hauptaktionären gehören die beiden wichtigsten Schweizer Einzelhandelsunternehmen Coop und Migros, die Pensionskassen von vier Versicherungen, zwei Banken, die europäische Infrastrukturentwicklerin Meridiam und die K+D Valueinvest aus St. Gallen.
Dazu gesellen sich über 70 weitere Aktionäre aus Industrie, Bau, Logistik, Energie, Engineering und Beratung – sogar der Flughafen Zürich ist mit von der Partie. Es stehen bereits über 100 Millionen Franken bereit, die seit der Annahme des Bundesgesetzes für den unterirdischen Gütertransport durch beide Kammern des Parlaments im Jahr 2021 für die Projektphase eingesetzt werden können.
Citylogistik ist integraler Part
Der Start von CST geht ins Jahr 2010 zurück, als Migros und die Warenhauskette Manor eine Machbarkeits-Vorstudie anschoben. Der Schwerpunkt der späteren Machbarkeitsstudie lag auf der Finanzierung des Projekts, und es wurden erste Kontakte mit den nationalen Behörden geknüpft. 2013 entstand der Förderverein CST mit 20 Unternehmen. 2014 erkannte das Projektteam, dass die Citylogistik in die Überlegungen einbezogen werden sollte, als zentrales Element, um auf wirtschaftliche Transportvolumen zu kommen. Damit war der Weg zum Gesamtlogistiksystem vorbereitet.
Multifunktionale Hubs
Die wohl größte Herausforderung für CST wird die Logistik an den Hubs sein, wenn die Transportfahrzeuge in hoher Frequenz – praktisch im Sekundentakt – ankommen und die im Tunnel vorsortierten Paletten nahtlos an die Oberfläche befördert und direkt auf ein anderes Transportmittel wie Elektromobil oder E-Citybike umgeladen und ausgeliefert werden müssen.
An diesen Schnittstellen sind senkrechte Vertikalförderer vorgesehen, mit denen die Güter entnommen werden. Dabei können gleichzeitig sowohl seitlich als auch übereinander mehrere Tunnelfahrzeuge nach oben gehoben und auf mehreren Stockwerken des Hubs be- und entladen werden.
Die Hubs sind platzsparend geplant. Sie beanspruchen unter anderem durch die vertikale Schichtung weniger Grundfläche als herkömmliche Logistikbauten. Oberhalb der Logistikebenen sind zudem öffentliche Bereiche, Arbeitsplätze und Wohnungen vorgesehen. Dies entspricht dem Trend, in Stadtgebieten Logistikflächen zu reduzieren und mit urbanen Nutzungen zu kombinieren. (fh)