Indien: Subkontinent im Potenzialcheck

Indien wird als Beschaffungsmarkt für Stahl, Pharma und auch Lebensmittel immer interessanter. Die Verkehrsinfrastruktur in dem riesigen Land ist allerdings zum Teil mangelhaft. 


(Foto: picture alliance / Sipa USA | SOPA Images)

Blumenketten, Feste, wuselige Märkte – Hanja Maria Richter klickt durch farbenfrohe Fotos, die sie in Indien aufgenommen hat. Normalerweise arbeitet sie als Corporate Communications Manager in der Hamburger Zentrale der Reederei Hapag-Lloyd. Aber Anfang dieses Jahres durfte sie drei Monate lang „unseren wichtigen Wachstumsmarkt und seine Menschen“ vor Ort kennenlernen. Wie fällt ihr Potenzialcheck aus? Begeistert berichtet sie von der diversen Gesellschaft und einem Land im Umbruch, in dem momentan gigantische Infrastrukturprojekte realisiert werden. Beispiel Mumbai: Im März 2025 soll der neue Navi Mumbai International Airport den Betrieb aufnehmen. Er bekommt Straßen-, Schienen- und U-Bahn-Anschlüsse, auch eine wasserseitige Anbindung ist später geplant.

Hapag-Lloyd hat große Erwartungen an den maritimen Sektor. Sanjay Kushwah geht als Länderverantwortlicher davon aus, „dass Indien bis 2030 zu den Top fünf der weltweiten Schifffahrtsmärkte gehören wird“. Schon jetzt entfallen ihm zufolge 95 Prozent des indischen Außenhandels auf Seefracht. Für 2025 gehen Experten wie er von 2,5 Milliarden Tonnen aus. Der Manager beobachtet Indiens wachsenden Einfluss auf den Welthandel durch „attraktive Außenhandelspolitik und Sprünge in Produktion, Technologie und bei Rohstoffen“.

Damit hat sich die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Germany Trade & Invest (GTAI) im April im Report „Sourcingchancen in Indien“ beschäftigt. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist Indien mit knapp 3,6 Billionen US-Dollar die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Bis 2030 strebt der Anfang Juni wiedergewählte Premierminister Narendra Modi Platz drei hinter den USA und China an. Um als Standort für exportorientierte Unternehmen aus dem In- und Ausland attraktiver zu werden, will die Regierung den Anteil des verarbeitenden Gewerbes von aktuell circa 13 Prozent am BIP auf 25 Prozent erhöhen.

Das Fazit des GATAI-Branchenüberblicks: „Das Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft. Zwar ist Indien allein schon aufgrund seiner Größe und Diversität kein einfacher Markt. Dank seiner Wachstumsstärke, der enormen Verfügbarkeit von Arbeitskräften und seiner gut entwickelten Industrien stellt das Land aber in vielen Bereichen eine gute Alternative beziehungsweise eine mögliche Ergänzung zu bisherigen Beschaffungsquellen dar.“ Indien und die EU verhandeln seit 2022 wieder über ein Freihandelsabkommen, das eine Absenkung der Importzölle auf beiden Seiten vorsieht.

Indien ist China auf den Fersen

Inzwischen ist Indien mit mehr als 140 Millionen Tonnen Rohstahl in 2023 beispielsweise zum zweitgrößten Stahlhersteller hinter China aufgestiegen. Im September hat Tata Steel im Bundesstaat Odisha den landesweit größten Hochofen in Betrieb genommen. Am Standort ist die Rohstahlkapazität nun von drei auf acht Millionen Tonnen jährlich gestiegen, die für die stetig wachsende Nachfrage im Automobil-, Infrastruktur-, Energie-, Schiffbau- und Verteidigungssektor benötigt wird.

Textilexporte will die Regierung Modi nach GTAI-Angaben bis 2030 auf 100 Milliarden US-Dollar gegenüber 2023 fast verdreifachen. Kushwah von Hapag-Lloyd beobachtet einen „Boom bei ökologischen Textilien und schnelllebiger E-Commerce-Mode“ für Europa und die USA. Auf diesen Märkten sowie im Nahen Osten gibt es ihm zufolge auch bei indischen Lebensmitteln, die überwiegend allerdings die 1,4 Milliarden Menschen im eigenen Land versorgen, „eine steigende Nachfrage nach Bio- und Superfood“. Laut Statistischem Bundesamt gingen 2023 indische Nahrungsmittel im Wert von 618 Millionen US-Dollar in den Export nach Deutschland, darunter vor allem Früchte, Kaffee und Meeresfrüchte.

Militzer & Münch (M&M) hat Anfang August eine indische Landesgesellschaft in Mumbai für Luft- und Seefracht gegründet. Zielmärkte sind Pharma, Flugzeuge am Boden und Projektlogistik. Die Schweizer Logistiker positionieren sich für Verkehre von und nach China, Südostasien, Europa und Afrika. „Indien wird sich kurzfristig zum drittgrößten Aviation-Markt der Welt entwickeln“, erwartet Holger Seehusen, M&M Group Manager Air & Sea.

GTAI zählt zu Indiens wichtigsten Industriezweigen die Chemieindustrie, deren Marktgröße von aktuell 200 bis 220 Milliarden US-Dollar bis 2040 auf eine Billion US-Dollar wachsen soll. Rund 11.000 Fabriken im ganzen Land produzieren Grundchemikalien, Pesti-/Herbizide, petrochemische Erzeugnisse, Farben und Lacke sowie Pharmaprodukte. Als „Apotheke der Welt“ rangiert Indien mengenmäßig weltweit auf dem dritten Platz mit 20 Prozent der Generika sowie etwa 60 Prozent der Impfstoffe. Clusterregionen für den Export gibt es unter anderem in Gujarat, Maharashtra und Tamil Nadu – Bundesstaaten, die eine vergleichsweise gute Verkehrsinfrastruktur inklusive Hafenanbindung und Lagerkapazitäten aufweisen.

Gujarat zeigt Indiens Aufstieg zur bedeutenden Exportnation wie unter einem Brennglas: Ahmadabad, Wirtschaftszentrum des nordöstlichen Bundesstaats, ist Sitz der Adani Group. Das private Hafenunternehmen betreibt unter anderem in Mundra einen Megahafen mit vier Containerterminals und einer Kapazität von 7,5 Millionen TEU. Dort legen auch Schiffe von Hapag-Lloyd an. Gleichzeitig verfolgt die deutsche Reederei aber eine eigene Strategie in Indien „durch eine erweiterte geografische Abdeckung und eine tiefere Integration in die Lieferkette“, so Kushwah. Seit Januar 2024 gehört Hapag-Lloyd über ein Drittel der Anteile an der JM Baxi Group, die unter anderem in Gujarat den Containerhafen Kandla betreibt.

Vor den Küsten von Gujarat und Tamil Nadu, wo beide Hafenunternehmen ebenfalls Terminals haben, sollen die ersten indischen Offshore-Windkraftanlagen entstehen. Bei der Fachmesse „WindEnergy Hamburg“ im September präsentierte sich Indien als künftiger Exporteur von grünem Wasserstoff. Die Regierung will bis 2030 Offshore-Windprojekte mit einem Volumen von 30 Gigawatt umsetzen. Doch das ambitionierte Vorhaben steht erst am Anfang: „Es gibt noch keine nennenswerten Pilotprojekte“, sagt Chaitra Dole von der Deutsch-Indischen Handelskammer.

„Die Regierung hat über das Außenministerium Gespräche mit Frankreich, Italien und Deutschland über mögliche Exporte aufgenommen“, berichtet Sameeha Sule, Chefrepräsentantin der offiziellen Vertretung der Freien und Hansestadt Hamburg in Mumbai. Bilaterale Verhandlungen gebe es zudem mit Japan, Südkorea und Singapur.

Logistikanbieter brauchen Geduld, bis die Infrastruktur mit Pipelines und Speichertanks aufgebaut ist. GTAI beurteilt die Bedingungen für effizienten Gütertransport generell kritisch. „Wer in Indien erfolgreich sein will, benötigt einen langen Atem, aber auch eine Leidenschaft für das Land und die Menschen“, meint auch Seehusen von M&M. Bei Hanja Richter ist der Funke während ihres Aufenthalts bereits übergesprungen.

Indiens Logistiksektor laut GTAI

Die Logistikkosten in Indien sind im internationalen Vergleich sehr hoch. Die zum Teil mangelhafte Infrastruktur sowie bürokratische Hürden erweisen sich noch als Wachstumsbremse. Die Regierung investiert in die Verkehrsnetze und moderne Logistikparks. Sie will etwa zusammen mit dem Privatsektor 35 multimodale Logistikhubs bauen. Diese sollen an bestehenden Drehpunkten wie den Hauptsee- und -flughäfen sowie entlang der Industrie- und Schienenfrachtkorridore zwischen Delhi, Mumbai, Kolkata, Chennai und Bengaluru entstehen. Rund die Hälfte des Schienen- und Lkw-Transportvolumens könnte über diese Hubs laufen. Ende 2023 gab es sechs Investitionsvorhaben. Der erste Logistikpark für 217 Millionen US-Dollar dürfte 2026 in Bengaluru den Betrieb aufnehmen.

Aktuell werden etwa zwei Drittel des Güteraufkommens per Lkw transportiert. Ende 2023 gab es im Land rund 46.000 Kilometer Autobahnen und Schnellstraßen. Indien will sein Schnellstraßennetz auf 85.000 Kilometer erweitern und die Ballungszentren über mehrspurige Autobahnen verbinden.

Künftig soll der Gütertransport nicht nur schneller, sondern auch nachhaltiger werden: Im Rahmen ihrer „National Logistics Policy“ zielt die Regierung auf eine Verteilung des Transportaufkommens auf 45 bis 50 Prozent Schiene, 25 bis 30 Prozent Straße und 20 bis 25 Prozent Schifffahrt (einschließlich Übersee) ab. Ein Viertel des innerindischen Transportvolumens wird bereits heute über die Schiene befördert. Im Finanzjahr 2022/2023 (1. April bis 31. März) waren es 1,5 Milliarden Tonnen. Die geplante Verdoppelung bis zum Jahr 2030 wird möglich durch das Schienenfrachtkorridornetz „Dedicated Freight Corridor“. Auf diesem fahren künftig doppelstöckige Containerzüge mit bis zu 100 Kilometern pro Stunde durch Indien. Im März 2024 wurde die 1.337 Kilometer lange östliche Trasse fertiggestellt. Der westliche Korridor soll Ende 2024 fertig sein. Vier weitere Strecken mit insgesamt 5.500 Kilometern und einem Investitionsvolumen von 25 Milliarden US-Dollar sind in Planung.

In Indiens Logistikbranche dominieren kleine und mittelständische Unternehmen mit lokalem Fokus. Daneben gibt es in- und ausländische Konzerne wie DHL, DB Schenker und Dachser. Der Branchenumsatz lag 2022 bei 274 Milliarden US-Dollar und soll bis zum Jahr 2030 auf 563 Milliarden US-Dollar zulegen. (zp/fh)

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