Trend zur Rückkehr ins Berufsleben: Wie Senioren im Fachkräftemangel unterstützen
Mit dem Mangel an Fachkräften und der bevorstehenden Rente der Babyboomer wächst auch die Sorge um mögliche Folgeschäden für die Wirtschaft. Wäre der Bedarf an Fachkräften in deutschen Unternehmen gedeckt, so könnten in diesem Jahr zusätzliche Güter und Dienstleistungen im Wert von 49 Milliarden Euro erwirtschaftet werden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW).
Auf der Suche nach Lösungen rücken neben der Generation Z auch ältere Beschäftigte und Ruheständler in den Fokus. „Mit Blick auf den Fachkräftemangel in den Betrieben und auf den demografischen Wandel brauchen wir flexible Angebote zur Weiterarbeit statt Anreize zum Aufhören“, kritisiert die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) mit Blick auf die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren. Insgesamt hätten schon über 2 Millionen Menschen diesen Rentenzugang gewählt.
Doch es gibt auch einen Gegentrend: Laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit übten im September vergangenen Jahres über 564.000 Menschen im Alter von 65 und darüber hinaus eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus – im September 2018 waren es noch unter 340.000. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten stieg im gleichen Zeitraum um rund 11 Prozent.
Die laufende Debatte über eine weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters wird jedoch gerade in Branchen mit körperlich herausfordernden Tätigkeiten kritisch gesehen. „In Logistikbetrieben wird häufig 24/7 im Schichtbetrieb gearbeitet. Dadurch besteht bei den Beschäftigten oft der Wunsch, eher früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden“, gibt eine HHLA-Sprecherin auf DVZ-Nachfrage zu bedenken. „Hierzu bieten wir entsprechende Modelle auf freiwilliger Basis an.“
Sentaris matcht Rentner und Unternehmen
Auf Freiwilligkeit setzt auch die Lösung des baden-württembergischen Start-ups Sentaris, das eine digitale Plattform für „Senior Work Management“ ins Leben gerufen hat. Die Idee erinnert zunächst an eine Art Jobbörse für Rentnerinnen und Rentner: Ziel ist es, Unternehmen mit einem dringenden Fachkräftebedarf und motivierte Ruheständler auf Projektbasis zusammenzubringen und Fachwissen in den Betrieben zu halten.
„Die Idee für Sentaris wabert schon seit vielen Jahren in meinem Kopf herum. Auch damals gab es schon das große Damoklesschwert des demografischen Wandels“, erinnert sich der 55-jährige Oliver Schubotz, der das Start-up 2021 gemeinsam mit seinem heute 61-jährigen Kollegen Michael Käßberger gegründet hat. „Im privaten Umfeld habe ich festgestellt, dass Menschen, die in den Ruhestand wechseln, durchaus noch Lust, Zeit, Energie und Motivation haben, sich zu engagieren.“ Ein häufig noch unerkanntes Potenzial, um Unternehmen in Zeiten des Fachkräftemangels punktuell zu unterstützen.
Damit das funktioniert, haben Rentnerinnen und Rentner über die Homepage des Start-ups zunächst die Möglichkeit, sich mit ihren persönlichen Daten und einem Freitext über ihre Stärken und Schwächen zu registrieren. Ein Algorithmus gleicht diese mit den Anfragen von Unternehmen ab. Bei den gesuchten Arbeiten stehen vor allem beratende oder anleitende Tätigkeiten im Vordergrund.
„Wir lassen natürlich keine Rentner irgendwelche Umzugswagen ausräumen oder Ähnliches“, betont Schubotz. „Aktuell haben wir zum Beispiel eine Anfrage aus der Logistikabteilung eines größeren produzierenden Unternehmens, das Unterstützung bei einer SAP-Umstellung braucht. Oder einen ehemaligen Bautechniker, der für die Geschäftsleitung eines Unternehmens unterwegs ist und Baustellen kontrolliert.“
Besonders häufig werden Ruheständler auch für Einarbeitungen oder die Begleitung von Auszubildenden gesucht, um den generationsübergreifenden Austausch zu fördern und gegenseitigen Wissenstransfer zu ermöglichen. „Wir wollen die jüngeren Generationen dazu motivieren, in Tandems zu arbeiten“, sagt Schubotz. Auch bei der Digitalisierung könne es hilfreich sein, die Umstellung von älteren Menschen begleiten zu lassen, ergänzt Käßberger. „Die wissen genau, worauf geachtet werden muss, damit alle Aufgaben sauber überführt werden.“
Eine vertragliche Bindung für das auf maximal drei Monate begrenzte Arbeitsverhältnis kommt dabei immer nur zwischen Sentaris und den Ruheständlern als freiberufliche Mitarbeiter zum Tragen. „Das heißt, wir bezahlen die Ruheständler für die Tätigkeit, die sie dann leisten, und die Unternehmen bezahlen uns“, erklärt Schubotz. Dafür sei lediglich eine Anzeige der freiberuflichen Tätigkeit beim Finanzamt sowie eine jährliche Steuererklärung nötig.
Einsätze in der Logistikbranche
Derzeit steht die Lösung des zweiköpfigen Start-ups noch am Anfang und ist mit insgesamt 300 registrierten Ruheständlern überwiegend auf den Bodenseeraum begrenzt. Die Idee selbst stößt in der Logistik aber bereits auf Interesse.
„Lösungen wie diese könnten aus unserer Sicht ein weiterer Ansatz sein, um einem temporären Fachkräftemangel zu begegnen beziehungsweise Fachkräfte im Unternehmen zu entlasten“, so die HHLA-Sprecherin. Die Lösung erfordere jedoch eine sorgfältige Planung und Umsetzung, gibt Lars-Olof Grün, Senior Vice President der Personalabteilung und Mitglied der Geschäftsleitung von Kühne + Nagel Deutschland, zu bedenken. „Auch arbeitsrechtliche und soziale Sicherheitsaspekte müssen geklärt werden, da das Konzept nicht für jegliche Tätigkeiten in der Logistik möglich sein wird. In der Vergangenheit haben wir hier schon Modelle genutzt, wo beispielsweise Ruheständler jungen Menschen im betriebsinternen Unterricht ihr Wissen weitergereicht haben, um ihnen eine erfolgreiche Abschlussprüfung zu ermöglichen und sie in ihrem weiteren Werdegang zu unterstützen.“
Auch Hellmann bindet ältere Kolleginnen und Kollegen als Wissensträger und Mentoren in unterschiedlichste Prozesse ein, weiß Daniel Ackermann, Head of HR Germany: „Erfahrene Mitarbeitende gestalten nicht nur Einführungsveranstaltungen, sondern werden gezielt als Onboarding-Paten eingesetzt.“
Erwerbsarbeit im Rentenalter kann und wird jedoch nicht das Allheilmittel gegen den Fachkräftemangel sein, dessen sind sich auch die Sentaris-Gründer bewusst: „Um das Problem zu lösen, brauchen wir ganz viele Mosaiksteinchen.“ Die Lösung des Start-ups ist nur eines davon.