Ausbildung: Wie Inklusion gelingen kann
In Deutschland fehlen vielerorts Fachkräfte, nicht nur in der Logistikbranche. Dennoch gibt es nach wie vor kaum Fortschritte, wenn es um die Integration von Menschen mit Handicap in den ersten Arbeitsmarkt geht. Das zeigt ein Blick ins aktuelle „Inklusionsbarometer Arbeit“ der Organisation Aktion Mensch und des Handelsblatt Research Institute.
Obgleich die Arbeitslosenquote bei Menschen mit Behinderung 2022 auf knapp unter 11 Prozent gesunken ist, liegt sie noch immer fast doppelt so hoch wie die allgemeine Quote. Vor allem die unzureichende Einstellungsbereitschaft von Unternehmen steht der wirklichen Verbesserung der Inklusionslage entgegen, lautet das Fazit der Auswertung. Dabei wären sie gesetzlich dazu verpflichtet. Doch der Anteil der Arbeitgeber, die jener Pflicht nachkommen, liegt auf einem Tiefstwert von 39 Prozent.
Kooperative Ausbildungen
Eine Einrichtung, die Unternehmen bei der Integration unterstützen will, ist die Paulinenpflege Winnenden. Die in Baden-Württemberg ansässige Organisation verfügt über ein Berufsbildungswerk und berufliche Vollzeitschulen sowie über Wohnangebote und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und psychischer Beeinträchtigung. Zudem haben Unternehmen verschiedenster Branchen die Möglichkeit, über eine „kooperative Ausbildung“ in ihrem Betrieb fachlich auszubilden.
Die jungen Erwachsenen schließen einen Vertrag mit dem Berufsbildungswerk und können aus den rund 30 Ausbildungen wählen, die von der Einrichtung angeboten werden. Während der Ausbildung arbeiten sie überwiegend in Betrieben wie dem Hamburger Software-Start-up Sirum, das im Rahmen der Kooperation Fachinformatikerinnen und Fachinformatiker in Fellbach bei Stuttgart ausbildet. Das 2016 gegründete Unternehmen hat ein Transportmanagementsystem für Transportunternehmer entwickelt.
„Wir übernehmen quasi den fachlichen Part“, erklärt Dennis Ringhofer, Managing Partner Technology bei Sirum, der die Auszubildenden vor Ort betreut. „Mein Bruder ist Konrektor an einer Schule mit sonderpädagogischem Schwerpunkt, von daher war mir das Thema nicht ganz fremd. Die Paulinenpflege hat uns beraten und unterstützt, bevor wir die Kooperation gestartet haben.“ Zuvor habe er im Berufsbildungswerk zunächst Programmierworkshops gegeben.
Auffangbecken und zweite Chance
Die Kooperation zwischen Sirum und der Paulinenpflege läuft seit etwa vier Jahren. Einige Azubis hat das Start-up nach der Ausbildung übernommen, darunter die Softwareentwickler Pascal Starkl, Richard Waibel und Jonas Müller. Juan Lee und Ilias Salewski sind derzeit in kooperativer Ausbildung zum Fachinformatiker, Asada Vetugov macht ein Praktikum.
„Vor der Ausbildung habe ich ein Studium zum Wirtschaftsinformatiker angefangen, das ich wegen psychischer Probleme leider abbrechen musste. Erst über die Reha habe ich mitbekommen, dass es Berufsbildungswerke überhaupt gibt“, berichtet der 27-jährige Starkl.
Auch sein Kollege Jonas musste das biotechnologische Gymnasium aus gesundheitlichen Gründen verlassen und sich eine Alternative für das eigentlich angestrebte Studium suchen. „Durch die lange Krankheitsphase war ich auf unter zwei Stunden arbeitsfähig pro Tag attestiert. So war es schwer, überhaupt auf den Arbeitsmarkt zu kommen“, erzählt der 27-Jährige. „Trotzdem wollte ich etwas Abwechslungsreiches und kognitiv Forderndes machen. Da hat sich ein IT-Beruf sehr angeboten. Das Berufsbildungswerk ist da wie ein Auffangbecken für Menschen wie mich.“
Mittlerweile kommen rund 80 Prozent der Softwareentwickler bei Sirum von der Paulinenpflege. „Sie sind tragende Säulen für unser Unternehmen“, erzählt Ringhofer. Vor der Zusammenarbeit habe er eigentlich schon nach einer Wohnung bei seinen Kollegen in Hamburg gesucht. Für die kooperative Ausbildung hat Sirum dann extra ein Büro in Fellbach eingerichtet – und Ringhofer ist geblieben. Die Berufsschule und weitere Kurse besuchen die Azubis auf dem Gelände des Berufsbildungswerks, nach erfolgreichem Abschluss hilft die Einrichtung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz. Ein Ausbildungsgeld wird von der Bundesagentur für Arbeit gezahlt.
„Bei den Abschlussprüfungen gibt es aber keinen Unterschied zu den Ausbildungen in der freien Wirtschaft“, betont Ivan Vasilev, Werkstattleiter Informationstechnik bei der Paulinenpflege. „Unser Ziel ist es, die jungen Menschen auf den ersten Arbeitsmarkt und in reguläre Arbeitsverhältnisse zu vermitteln.“
Herausforderungen meistern
Im Bereich Logistik bietet das Berufsbildungswerk Ausbildungen zur Fachkraft für Lagerlogistik, Fachlagerist oder Kauffrau im E-Commerce an. Doch nicht jeder Beruf ist für den kooperativen Ansatz geeignet.
„In der Logistikbranche müssen bestimmte Aufgaben oft innerhalb der vorgegebenen Zeit erledigt werden. Für uns als Softwareunternehmen ist es einfacher, Ausfälle zu kompensieren, wenn jemand mal einen Durchhänger hat“, weiß Ringhofer um die Herausforderungen, die eine kooperative Ausbildung mit sich bringt. Gerade die Wintermonate seien für Menschen mit Depressionen besonders schwer. Auch die Corona-Pandemie sorgte für ungeahnte Herausforderungen.
„Da braucht man viel Zeit und ein offenes Ohr“, sagt Ringhofer. Die Betreuung der Azubis und Praktikanten nehme etwa ein Drittel seiner Arbeitszeit in Anspruch. Die Azubis bekommen von der Paulinenpflege auch therapeutische Unterstützung. „Anfangs habe ich noch viel mit dem Berufsbildungswerk telefoniert, um mir Hilfe zu holen. Mittlerweile weiß ich, worauf ich zu achten habe. Für mich gehört das zu meiner sozialen Verantwortung als Unternehmer.“ Nach wie vor werden die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung oft unterschätzt, bedauert Vasilev. Ringhofer sieht vor allem im Mittelstand große Chancen: „Dort können einzelne Personen wirklich aktiv gefördert werden“, sagt er. Dennoch müsse ein Unternehmen dafür in der Lage sein, gesundheitliche Ausfälle zu kompensieren. „Ich wünsche mir, dass sich mehr Unternehmen trauen, das sehr geringe Risiko einer kooperativen Ausbildung einzugehen. Jeder Mensch sollte die Chance haben, zu arbeiten und sich zu beweisen.“