„Wir können Fehler monetarisieren“
DVZ: Herr Obermann, was ist das Zufall Lab?
Steffen Obermann: Wir sind die Experimentierwerkstatt von Zufall. Unser Team beschäftigt sich mit klassischen Innovationsthemen, hat aber auch den Auftrag, zum Kulturwandel beizutragen.
Was bedeutet das?
Eine unserer Kernfragen lautet: „Wie können Zufall-Mitarbeitende künftig anders arbeiten?“ Das ist ein großer Auftrag. Unsere zweite Aufgabe ist es, bestehende Prozesse weiterzuentwickeln. Drittens kommt dann noch die Entwicklung ganz neuer Geschäftsmodelle hinzu.
Ein sehr umfangreiches Aufgabengebiet. Wie sieht die Arbeit im Lab aus?
Wir tun etwas relativ Simples: Die Logistik hat eine so dünne Personaldecke und so knapp strukturierte Prozesse, dass man es sich nicht erlauben kann, im laufenden Prozess etwas Neues auszuprobieren. Damit würde man unsere Qualität und damit das Alltagsgeschäft gefährden. Das Lab ist der Raum, in dem neue Ideen getestet werden können. Hier können wir prüfen, ob Annahmen richtig sind und neue Prozesse und Modelle funktionieren.
Mit dem Zufall Lab richten Sie den Blick in die Zukunft. Der Ort selbst hat aber auch eine logistische Vergangenheit.
Das ist richtig. Wir haben uns in den Räumen der ehemaligen Stückgutspedition Hermann Weber eingerichtet. Die älteste Spedition von Göttingen, die 2017 Insolvenz anmelden musste. Insgesamt hat Zufall rund 1,5 Millionen Euro in die Ertüchtigung des Standorts investiert. Das zeigt, wie wichtig dem Unternehmen und der Unternehmensführung dieses Anliegen ist. Man kann sich das Lab heute als Mischung aus Werkstatt, Labor und Wohnzimmer vorstellen. Dazu zählen auch die fünf Logistikhallen. Die Nähe zum Zufall-Standort in Göttingen ist für uns auch wichtig, denn ohne die Kolleginnen und Kollegen geht hier nichts.
Warum braucht es einen Ort wie das Lab?
Veränderungsprozesse und Projekte beginnen wir hier, damit wir das Unternehmen nicht auf einen Schlag umkrempeln müssen. Das würde auch gar nicht funktionieren. Wenn bei uns etwas schiefgeht, scheitert ein einzelnes Projekt, aber weder der gesamte Prozess noch das Unternehmen.
Welche Rolle nehmen Sie und Ihre Kollegen dabei ein?
Wir haben im Lab ganz unterschiedliche Kompetenzen vereint. Wir sind gut darin, einen Prozess zu entwickeln, der an ein ganz bestimmtes Ziel führt. Dafür bringen wir die entsprechenden Fachexperten von Zufall im Lab zusammen. Je nach Thema holen wir dann Kunden, Partner oder passende Start-ups zur Zusammenarbeit hinzu. Denn es braucht die Perspektiven von außen.
Mit welchen Themen beschäftigen Sie sich aktuell?
Wir befassen uns unter anderem mit der Frage, wie sich der Job der Fahrenden im Alltag besser gestalten lässt. Das ist ein Riesenkomplex, aus dem sich viele kleinere Themen entwickeln.
Und welche Projekte werten Sie bereits als erfolgreich?
Rückblickend ist die Citylogistik sicher das beste Beispiel, da haben wir als Unternehmen ein ganz neues Geschäftsmodell entwickelt. Im städtischen Umfeld gibt es einen großen Bedarf für CO₂-freie Transportdienstleistungen. Das war unsere Grundannahme. Wir haben als Unternehmen in Start-ups in dem Umfeld investiert, den Markt kennengelernt und Wissen aufgebaut. Nachdem sich unsere Grundannahme gefestigt hat, haben wir innerhalb von wenigen Wochen im vergangenen Jahr gemeinsam mit ersten Kunden das Experiment gestartet und viel gelernt. Jetzt ist die Arbeit des Labs gewissermaßen getan, und das Unternehmen Zufall hat die Entscheidung getroffen, dass wir weiter investieren und in die Skalierung gehen. Dafür haben wir eine gute Grundlage geschaffen.
Wie funktioniert das Modell?
Der Ausgangspunkt war zuerst eine Wäscherei als gemeinsamer Experimentierpartner. Schnell sind dann andere Kunden wie ein Dentallabor dazugekommen, das seine Materialien zu den Zahnärzten in der Stadt gebracht hat. Dort machte das ein Auszubildender mit dem Auto. Oft gibt es im B2B-Geschäft Mitarbeitende, die stundenweise in der Stadt mit kleinen Transportern ausliefern. Inzwischen bündeln wir viele Auslieferungen in 13 Touren die Woche und liefern in der Stadt mit dem Cargobike aus. Das nimmt pro Kunde pro Tag Autos von der Straße – und wir haben gelernt, dass es eine Reihe von Produkten gibt, deren Absender und Empfänger innerhalb der City liegen. Dafür lohnt sich die klassische letzte Meile mit Umschlag nicht, sondern die Transporte bleiben in einem geschlossenen Radius.
Das klingt nach einem ganz neuen Ansatz?
Ja, das liegt quer zu den üblichen Strukturen, die immer am Depot beginnen. Um das zu verstehen, sind wir die ersten drei Monate kostenlos gefahren. Jetzt kennen wir die Zusammenhänge und haben dafür sogar eine eigene Tourenplanungssoftware eingeführt, weil unsere Bestandsorganisation den veränderten Bedarf nicht erfüllen konnte. Damit steht die Basis, um den Service zum Standardprodukt zu machen.
Lernen darf also auch etwas kosten?
Im Lab gehört das zum Konzept. Wir hatten am Anfang beispielsweise den Fehler gemacht, einfach nur die Zustellfahrzeuge durch Cargobikes ersetzen zu wollen. Fehler sind dann etwas Gutes, wenn wir daraus lernen können. So werden sie gewissermaßen monetarisierbar: Wir entwickeln ein neues Geschäftsmodell und erzielen zusätzliche Profite. Dagegen würden uns Fehler in unseren Routineprozessen sehr wehtun. Die Lernkultur in diesem geschützten Raum hilft uns enorm weiter.