Supply Chain Management 2050: Die Zukunft sind Parallelwelten
Zukunftsszenarien beschreiben oft den Stand einer Technik in einer fernen Zeit. Es sind Ableitungen aus der Gegenwart und der Versuch, eine Entwicklung vorauszusagen. Ein Beispiel ist das autonome Fahren. Schon heute gibt es viele Fahrerassistenzsysteme, die Fahrzeuge ohne menschliches Eingreifen von einem Startpunkt ins Ziel bringen können. Daraus lässt sich das Szenario ableiten, dass sich in Zukunft – vielleicht 2040, vielleicht aber auch erst 2050 – alle Autos autonom bewegen, da die Fahrzeuge mit der Infrastruktur und den Verkehrsleitsystemen komplett vernetzt sind und auch die Bewegungen von Fußgängern und allen anderen Verkehrsteilnehmern digital verarbeitet und von den Verkehrsleitsystemen analysiert werden. Zugleich befördern Drohnen Güter und Personen durch die Luft.
Szenarios dieser Art lassen sich für so ziemlich jede technische Anwendung der heutigen Zeit in die Zukunft extrapolieren. Heraus kommen dabei mitunter Fantasien, die so unrealistisch erscheinen wie vor 50 Jahren das Videotelefonat. Doch es sind natürlich nicht nur technische Anwendungen, die das Bild der Zukunft bestimmen. Es gehören genauso gesellschaftliche, politische sowie ökonomische und ökologische Entwicklungen dazu. Gerade wenn es darum geht, die Anforderungen an das Supply Chain Management in den nächsten 30 Jahren zu fassen, ist eine rein technische Sicht nicht ausreichend, sondern eine ganzheitliche Betrachtung notwendig.
Das Supply Chain Management 2050 wird geprägt sein durch die Antworten auf einige Leitfragen, die sich aus heutiger Sicht stellen: Wie ist es künftig um Frieden und Sicherheit in Europa bestellt? Bleibt die EU bestehen oder zerfällt Europa wieder in Kleinstaaterei? Wie entwickelt sich der Klimawandel? Wie stark wirken sich Protektionismus und Decoupling aus – also das Abkoppeln ganzer Handelssysteme und Liefernetze von der Weltwirtschaft? Wie entwickelt sich das Verhältnis zwischen China, den USA und Europa? Welche Migrationsströme gibt es in den kommenden Jahren und Jahrzehnten?
Frieden in Europa
Auf diese Fragen gibt es weder einfache noch verlässliche Antworten. Entsprechend vage wird ein Zukunftsszenario immer bleiben. Derzeit beschäftigt der Krieg in der Ukraine wohl die meisten Menschen in Europa. Es ist kaum vorstellbar, dass in absehbarer Zeit wieder wirtschaftliche Beziehungen mit Russland gepflegt werden, wie sie vor dem militärischen Einmarsch bestanden haben. Es wird allein Jahre dauern, bis eine politische Sicherheitsarchitektur installiert ist, die eine friedliche Koexistenz von Russland und Europa ermöglicht. Wichtig hierbei ist, dass die EU als starke Einheit auftritt, doch das ist nicht sicher. Es droht ein Zerfall in Nationalstaaten, wie er sich durch den Zulauf zu rechten Parteien in vielen Ländern abzeichnet.
Somit kommt Russland als Energie- und Rohstofflieferant womöglich nur noch bedingt infrage. Wenn das Land selbst den Weg in eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Abschottung wählt, sind davon neben Beschaffungsquellen auch Transportwege betroffen. Die Seidenstraße könnte 2050 Geschichte sein, auch weil womöglich zugleich eine Reduzierung der Abhängigkeit vom chinesischen Markt von den westlichen Industrienationen vorangetrieben wird. Für die Verkehre von China nach Europa bietet sich dann womöglich schon die Passage durch die Arktis an, weil der Klimawandel für eisfreie Strecken gesorgt hat. Dann ist allerdings auch sicher, dass Russland wiederum daraus Profit schlagen will, wenn Schiffe durch russische Gewässer fahren.
Handelsbündnisse und Regionalisierung
Die vergangenen Jahre waren geprägt von gestörten Lieferketten. Grenzenlose Globalisierung ist aus heutiger Sicht keine Option für die Zukunft. In der Weltwirtschaft zeichnet sich eine stärkere Regionalisierung ab. Staaten, die Handelsbündnisse vereinbart haben oder durch anderweitige Abkommen wie das NATO-Bündnis verbunden sind, werden ihre Handelsbeziehungen intensivieren. Die Basis für sichere Lieferketten ist künftig ein sogenanntes Friend-Shoring. In Europa wird vermutlich eine Chipproduktion aufgebaut, mit dem Ziel, vor allem die europäische Automobil- und Elektroindustrie unabhängig von asiatischen Herstellungsländern zu machen.
In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird sich der technische Fortschritt deutlich beschleunigen und in immer kürzer werdenden Abständen zu leistungsfähigeren Systemen und Anwendungen führen. Diese Entwicklung konnte man in der Vergangenheit anschaulich an der Zunahme der digitalen Speicherkapazität verfolgen. Ganz gleich ob es sich künftig um alternative Kraftstoffe und Antriebsarten, Datenstandards, künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen oder die Evolution in der virtuellen Welt handelt – technische Innovationen bei Produkten und Services werden maßgeblich das Bild der Zukunft prägen, selbst wenn sich viele Entwicklungen nicht dauerhaft durchsetzen.
Abbild der Realität durch digitalen Zwilling
Für die Gestaltung der Supply Chains wird ein digitales Abbild der Prozesse, der sogenannte digitale Zwilling, unverzichtbar werden. Damit sind Simulationen möglich, die teure Erfahrungen in der Realität ersparen. Schon heute werden mithilfe digitaler Abbilder von Maschinen und Fabriken Wartungsintervalle gesteuert und Prozesse optimiert. Der zunehmende Einbau von Sensoren in technische Geräte ermöglicht eine immer präzisere Überwachung der Maschinen und Abläufe. Nachschubversorgung und Bestandshaltung lassen sich so in Echtzeit anpassen und Prognosen werden zuverlässiger.
Der digitale Zwilling hat zudem das Potenzial, ganze Wertschöpfungsketten zu revolutionieren. Durch Simulation lassen sich Produkte und Services bereits vor der Markteinführung testen und an die Erfordernisse der Kunden anpassen. Alle Beteiligten an einer Wertschöpfungskette können kollaborativ den digitalen Zwilling mit Daten und mathematischen Methoden weiterentwickeln, sodass sich anhand des Modells möglichst realitätsnah die Folgen von Änderungen voraussagen lassen. So lässt sich dann jederzeit sehen, wie sich bestimmte Einflüsse – wie Nachfrageschwankungen, Kapazitätsengpässe oder auch veränderte politische Rahmenbedingungen – auf das gesamte Wertschöpfungsnetz und die daran beteiligten Unternehmen auswirken.
Gerade für die störungsanfälligen Logistikprozesse ist dies ein enormer Vorteil. Notwendige Anpassungen können in Echtzeit und automatisiert angestoßen werden. Der digitale Zwilling eines Wertschöpfungsnetzes erstreckt sich von der Quelle über alle Lieferantenstufen, Hersteller, Händler, Dienstleister und Kundinnen bis zur Senke.
Die Macht der Plattformen
Der technische Fortschritt und die steigende Leistungsfähigkeit von IT-Systemen wird die Beziehungen zwischen allen Wirtschaftsbeteiligten ändern. Denkbar ist eine über Plattformen weitreichend vernetzte Wirtschaftswelt, in der sämtliche Geschäftsprozesse zwischen Produzenten, Lieferanten, Händlern, Dienstleistern und Kunden automatisiert abgewickelt werden. Die Folgen der Transaktionen wiederum werden in den digitalen Zwillingen der Wertschöpfungsnetze abgebildet.
Technische Basis für sichere Transaktionssysteme ist die Blockchain. Smart Contracts sogen für Rechtssicherheit. Die Steuerung der Versorgung von Produktion und Handel geschieht über Plattformen, wobei die Ware in Form von Sendungen oder sogar einzelnen Teilen ihren Weg zum Ziel selbst findet. Dies wird aufgrund des global unterschiedlichen technischen Entwicklungsstands in Nationen und Regionen nicht überall der Fall sein. Doch es könnten sich regional begrenzte Wirtschafts-Ökosysteme entwickeln, die autonom und autark sind.
Für die Steuerung der Prozesse ist die Verarbeitung riesiger Datenmengen notwendig. Maschinelles Lernen durch Künstliche Intelligenz wird in einigen Jahren derart schnell vonstattengehen, dass sich die Systemlandschaften in kürzester Zeit an nahezu alle Änderungen und Einflussfaktoren – auch unvorhersehbare – anpassen und optimieren können. Dafür ist enorme Rechnerleistung notwendig, die von Quantencomputern bereitgestellt wird.
Grenzen der realen Welt
Der technische Fortschritt wird zudem massiv das gesellschaftliche Zusammenleben beeinflussen – auf kultureller, wirtschaftlicher, politischer und privater Ebene. Parallel zur realen Welt entsteht eine immer größer werdende virtuelle Realität, die erstere ergänzt, aber ebenso mit ihr im Widerspruch steht. Ob diese digitale Zweitwelt dann tatsächlich Metaversum heißt, wie es sich Facebook-Gründer und Meta-Chef Mark Zuckerberg wünscht, ist zweifelhaft. Möglicherweise werden derartigen visionären Entwicklungen aus der realen Welt rechtliche Grenzen gesetzt. Das Konfliktpotenzial ist ebenso da wie die Chance zu neuen Geschäftsmodellen oder neue Formen der gesellschaftlichen Interaktion.
Maßgeblich für die freie Entwicklung der Wirtschaft und des einzelnen sowohl in der physischen Welt als auch im digitalen Universum sind in jedem Fall die politischen Rahmenbedingungen. Wie die reale Wirtschaft auch wird die virtuelle Realität unter einer autokratischen Regierungs- oder Staatsform anders aussehen als in einer demokratischen. Nach wie vor bietet die Demokratie die weitaus bessere Perspektive für jedes einzelne Individuum, sowie für die Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft.
Neben aller Konzentration auf stabile Lieferketten und Handelsbeziehungen in der Zukunft sollte also ebenso auf eine stabile Demokratie Wert gelegt werden – die man pflegen und notfalls verteidigen muss.
Dieser Artikel ist erstmals am 15. Juli 2022 auf DVZ.de erschienen. Wir wiederholen den Beitrag anlässlich des Deutschen Logistik-Kongresses in Berlin.