Der E-Commerce-Boom ist für die Luftfracht eine riskante Wette

Rund ein Fünftel der globalen Luftfrachtladung besteht inzwischen aus E-Commerce-Sendungen. Allein die beiden asiatischen Plattformen Shein und Temu binden pro Tag die Kapazität von rund 100 Großraumfrachtern. Der Boom mag aktuell für ausgelastete Frachtflugzeuge sorgen – doch ein Grund zur Freude ist das nicht.

In einem E-Commerce-Verteilzentrum in Shanghai sortieren Arbeiter zum Versand bestimmte Pakete. Der Aufstieg von Playern wie Temu, Shein und Co. führt im grenzüberschreitenden Handel zu einem Luftfrachtaufkommen von Milliarden von Paketen. (Foto: Picture Alliance/Reuter)

Das Jahr 2024 neigt sich dem Ende entgegen, und es wird für die Luftfracht besser enden, als von den meisten Marktteilnehmern zu Jahresbeginn erwartet. Tatsächlich besteht auf den ersten Blick Grund zur Freude: Folgt man der Prognose des Dachverbands der Fluggesellschaften IATA, so werden die Luftfrachtvolumina, gemessen in Tonnenkilometern, zu Jahresende 2024 leicht über dem Vor-Corona-Niveau liegen.

Bei genauerer Betrachtung besteht indes zu Euphorie wenig Anlass, denn, über die Jahre betrachtet, sind die Volumenzuwächse minimal: Das Wachstum im Zeitraum zwischen 2005 und 2021 hat gerade mal 2,5 Prozent pro Jahr betragen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum haben die Containertransporte, gemessen in Tonnage, um 4,6 Prozent pro Jahr zugenommen. Trüb ist vor allem der Blick auf die Ertragssituation der Branche. Ausweislich der Zahlen der IATA haben die Vorsteuergewinne der Branche (EBIT) nur im Jahr 2023 die Kapitalkosten gedeckt, in allen anderen Jahren haben Carrier im Schnitt Geld verloren.

Angesichts der schwachen Ertragslage fehlt es an Ressourcen, um in bahnbrechende Innovationen zu investieren. Doch statt das Heil in strategischen Kooperationen zu suchen, kämpfen die Beteiligten meist allein. Wie sehr es an der strategischen Zusammenarbeit der Branche mangelt, zeigt sich am deutlichsten innerhalb der IATA. Der Vorläufer von CargoIQ wurde vor fast 30 Jahren initiiert und ist immer noch nicht vollständig implementiert. Da die Mitgliedsunternehmen ihre Gewinne vor allem mit der Passage verdienten und die Fracht bestenfalls zur Deckung von Kosten beitrug, wurde diese viel zu lange vernachlässigt.

10.000

Tonnen Luftfracht pro Tag stammen von Shein und Temu.

Quellen: Boeing

Die große Hoffnung E-Commerce

Augenscheinlich fehlt es der Branche an einem gemeinsamen Rezept für ein im doppelten Wortsinnnachhaltiges Wachstum. Der US-Flugzeugbauer Boeing hingegen sieht es anders: In seiner optimistischen Prognose geht das Unternehmen aus Seattle von einem durchschnittlichen jährlichen Zuwachs von 4,1 Prozent bis 2041 aus. Als wesentlichen Treiber hat der Flugzeugbauer den Internethandel von Asien heraus erkannt. Für viele in der Branche, Airlines, Flughäfen und Flugzeugbauer ist der internationale E-Commerce die große Hoffnung. Laut EU-Kommission gelangten im Jahr 2023 bereits mehr als 2 Milliarden Pakete aus Drittstaaten nach Europa. Die beiden bekanntesten chinesischen Händler sind Shein und Temu, sie machen bislang den Großteil des Handels aus. Sie allein sollen laut Boeing bis zu 10.000 Tonnen Luftfracht versenden – pro Tag. Dies entspräche der Kapazität von mehr als einhundert B777F.

Die Zahlen dürfen hinterfragt werden; dass das transportierte Volumen beträchtlich ist, aber nicht. Für die Fluggesellschaften ist das eine neue Situation. Bislang lief der Verkauf von Kapazität zu 90 Prozent und mehr über Luftfrachtspeditionen, sie waren die eigentlichen Großkunden. Die beiden Internetgiganten hingegen benötigen keine Agenten, um Flugraum zu beschaffen, sie sprechen direkt mit den Carriern oder Brokern.

200

Millionen Visits verzeichnete Shein.com im Juli 2024.

Quellen: Unternehmensangaben

Das Beratungshaus McKinsey erwartet, dass der Anteil von E-Commerce am globalen Luftfrachtverkehr im Jahr 2027 zwischen 25 und 30 Prozent betragen wird. 2017 hat der Anteil noch bei rund 10 Prozent gelegen; derzeit dürfte der Wert bei 20 Prozent liegen. Vertraut man den Prognosen, so hängt das Schicksal der Luftfracht in weiten Teilen vom globalen Internethandel ab. Doch die Abhängigkeit ist gegenseitig, da diese Form des E-Commerce ganz wesentlich auf die Luftfracht baut, um die Waren in kurzer Frist zum Endkunden zu bringen. Daher lohnt es, die gegenseitige Abhängigkeit genauer anzusehen.

Die Geschäftsmodelle von Temu und Shein sind in mancher Hinsicht hoch innovativ, aber auch fragil: Das Produktangebot richtet sich vor allem an die sogenannte Gen-Z, also junge Menschen, die zwischen den Jahren 1995 und 2010 geboren sind. Die Zielgruppe wird über Suchmaschinen, soziale Medien wie Instagram, TikTok und Youtube sowie immer mehr über die eigene App erreicht. Die angesichts einer stagnierenden heimischen Nachfrage gebeutelte chinesische Industrie hat neue Absatzmärkte, um ihre Überkapazitäten zu beschäftigen.

Brutaler Wettbewerb

Schätzungen zufolge hat allein Temu in 2024 rund 3 Milliarden US-Dollar in Marketing investiert. Mit kleinen Spielen, sehr niedrigen Preisen und vielen Rabatten werden die Käufer, meist bis zu 25 Jahre alt, zu Spontankäufen animiert. Im Juli war Shein.com mit mehr als 200 Millionen Visits die meistbesuchte Website im Modesegment – weit vor Nike und Zara.

Die niedrigen Preise sind möglich, weil die Hersteller nach einem brutalen Auktionsprozess ausgewählt werden, der Anbieter mit dem niedrigsten Preis kommt zum Zuge. Die Produzenten ihrerseits sind untereinander austauschbar und stehen in intensivem Wettbewerb zueinander. Schätzungen gehen davon aus, dass die Hälfte aller Textilfirmen in Guangdong für Shein produziert.

Die Gesellschaft als Ganzes bezahlt, wenn Ressourcen verschwendet und Abfallberge wachsen. Die Qualität der Produkte, insbesondere von Temu, ist wenig auf Nachhaltigkeit angelegt. Viele Produkte lassen sich nur wenige Male nutzen, bevor sie im Abfall landen. In einer großen Zahl von Textilien wurden Schadstoffe gefunden, so überstieg der Bleigehalt in einer Kinderjacke in Kanada das 20-Fache des Grenzwerts, und der einer Handtasche das Fünffache. Elektroprodukte entsprachen mehrfach nicht westlichen Sicherheitsstandards.

Die übliche Logik verlangt, dass vor allem Ware dann in der Luft transportiert wird, wenn sie entweder besonders dringend benötigt wird, wie etwa Ersatzteile, oder die Ware besonders werthaltig ist. Die Sendungen von Temu und Shein haben jedoch nur einen geringen durchschnittlichen Warenwert. Den anteiligen Luftfrachtkosten eines Shirts von weniger als 1 Euro stehen Einsparungen durch die obsolete Lagerhaltung und Feinverteilung in Europa oder Nordamerika gegenüber.

Dass sich der Transport von Asien im Flugzeug rechnet, liegt an zwei Dingen: Durch das Chartern ganzer Flugzeuge und die Kleinteiligkeit der Sendungen wird der Frachtraum optimal gefüllt. Der chinesische Händler weiß, was er wann versendet und kann die Paletten oder Luftfrachtcontainer wesentlich besser füllen als ein Spediteur oder Carrier, der die Ware oft zum ersten Mal am Gateway sieht. 

Zum anderen ist Flugbenzin seit jeher steuerbefreit, so dass die durch Fliegen verursachten Umweltschäden nicht monetär ausgeglichen werden. Je nach Quelle wird der CO2-Ausstoß pro Tonnenkilometer bei einem 18.000-TEU-Schiff auf 3 Gramm, bei einer im Frachtbereich immer noch beliebten B747 auf 435 Gramm geschätzt. Überspitzt formuliert ließe sich sagen: Eine Rentnerin bezahlt ihre CO2-Abgabe, um im Winter ihre Wohnung zu heizen, ihre Enkelin aber keine Lenkungsabgaben, wenn sie ihr T-Shirt aus China einfliegen lässt und nach einmaligem Gebrauch wegwirft. Net Zero lässt sich so kaum erreichen.

Ein weiterer Kostenvorteil besteht darin, dass De-minimis-Sendungen mit einem Warenwert von bis zu 150 Euro derzeit vom Zoll befreit sind; es fällt nur die Einfuhrumsatzsteuer von in Deutschland 19 Prozent an. Das deutsche Bundesfinanzministerium bemüht sich, zum Schutz des hiesigen Handels, dieses Schlupfloch bis 2028 in der Europäischen Union zu schließen. Andere Länder sind bereits weiter: Südafrika beispielsweise hat – gegen erheblichen Widerstand vieler Kunden und Zusteller – die De-minimis-Regeln für Textilimporte gekippt und belegt alle entsprechenden Sendungen mit einem Zoll von 25 Prozent. Die Türkei folgte im August, als Präsident Erdogan die Bagatellgrenze per Dekret von 150 auf 30 Euro senken ließ.

Ein für Shein und Temu besonders wichtiger Markt sind die USA. Hier wurden die Freigrenzen erst 2016 von 200 auf 800 Dollar angehoben. Inzwischen hat sich die liberale Haltung geändert: Im Juni entzogen die Behörden mehreren Brokern, unter ihnen etwa Seko Logistics, für 90 Tage die Teilnahme an dem Zollbefreiungsprogramm für De-minimis-Sendungen. Zusätzlicher Ärger droht, sollten die USA den Uyghur Forced Labor Prevention Act (UFLPA) von 2021 stärker zur Anwendung bringen. Dieser verbietet den Import von Produkten aus der autonomen Region Xinjiang, es sei denn der Importeur kann die Annahme widerlegen, dass diese unter Einbezug von Zwangsarbeitern produziert wurden. Isotopen-Analysen von importierten Textilen legten in der Vergangenheit die Annahme nahe, dass Baumwolle aus Xinjiang verarbeitet wurde – wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass circa 80 Prozent der chinesischen Baumwolle uigurischen Ursprungs sind.

Für die USA spielen, neben dem Schutz von Menschenrechten, auch handfeste wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle: Das Land ist seinerseits der weltweit viertgrößte Produzent von Baumwolle; die Industrie hat eine wichtige Lobby. Es ist vorstellbar, dass die amerikanische Zollbehörde in Zukunft Importware genauer prüfen wird, insbesondere dann, wenn sich die Beziehungen zu China weiter verschlechtern.

Stellung der Luftfracht ist fragil

In der Zusammenfassung muss der optimistische Ausblick derjenigen erstaunen, die das stetige Wachstum des grenzüberschreitenden E-Commerce als von vornherein gegeben annehmen. Es ist vielmehr eine riskante Wette, die jene eingehen, die in Erwartung eines anhaltenden Booms langfristige Investitionsvorhaben anstoßen. Die chinesischen Händler können einzelnen Aspekten wie der fragwürdigen Qualität, der fehlenden Nachhaltigkeit und dem Aufbau von Importbeschränkungen begegnen, in der Summe mag dies aber auch zu einer Änderung des bestehenden Geschäftsmodells führen. Shein hat bereits ein erstes Lager im polnischen Breslau von 40.000 Quadratmetern angemietet; Temu betreibt einige Lager in Nordamerika. Denkbar ist, dass die Unternehmen sich dem etablierten Modell von Amazon und Zalando annähern mit einer Lagerhaltung, die näher an den Absatzmärkten ist.

Luftfracht würde dann zwar weiterhin benötigt, aber in einem weitaus geringeren Ausmaß als heute. Die zunehmende Skepsis lässt sich auch an den Finanzmärkten beobachten. Die Aktien von Temus Mutterkonzern Pindoudou verloren nach einer Gewinnwarnung Ende Juni 25 Prozent an Wert, Mitte September ging es dann um weitere 36 Prozent in den Keller.

Was aber bleibt für die Luftfracht, wenn der Wachstumstreiber E-Commerce den Erwartungen nicht gerecht wird? Was, wenn die Kosten der Luftfracht durch die verpflichtende Beimischung nachhaltiger Treibstoffe (Sustainable Aviation Fuels, SAF) über die Zeit steigen und mehr Produkte auf andere Transportträger ausweichen? Was, wenn die von der IATA erhofften Innovationen im Flugzeugbau ausbleiben?

Nimmt man den interkontinentalen Internethandel aus der Gleichung heraus, schrumpft der Luftfrachtmarkt schon heute. Echte Produktinnovationen, die die Erwartung einer Trendumkehr rechtfertigen könnten, zeichnen sich derweil nicht ab. In einem schrumpfenden Markt vor allem auf Sondererträge aufgrund von Kriegen, Pandemien oder Naturereignissen zu setzen, ist auf Dauer wenig tragfähig.

Der Luftfrachtbranche droht ein im Vergleich zu anderen Verkehrsträgern zunehmender Bedeutungsverlust. Dies ist ein durchaus realistisches Szenario, auf das es sich für alle Beteiligten genauso einzustellen lohnt wie auf etwaige neue Wachstumspfade. Hier sind die Verbände und von diesen vor allem die IATA gefordert, die Ansprüche unterschiedlicher Interessengruppen zusammenzubringen, statt diese gegeneinander auszuspielen. (ol)

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