VDV-Vizepräsident Berends: „Wir benötigen einen umfassenden Netzausbau“
Die Gleitende Langfristprognose des Bundesverkehrsministeriums sieht den Schienenverkehr auf einem absteigenden Ast. Im Thesencheck ordnet Joachim Berends, Vizepräsident des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), die wichtigsten Themen der Schienenbranche ein.
Die von der EU-Kommission angedachte CO₂-Regelung für Lkw wird keine negativen Auswirkungen auf den Schienengüterverkehr haben.
Richtig. Die hohen Anforderungen an den Flottenemissionen ab 2030, 2035 und 2040 werden dazu führen, dass noch mehr schienenaffine Güter von der Straße auf die Schiene verlagert werden. So gesehen ist die von der Europäischen Kommission festgelegten Flottenemission eine Chance für den Schienengüterverkehr.
Je mehr E-Lkw im Vor- und Nachlauf des KV in Dienst gestellt werden, desto mehr wird der Kombinierte Verkehr zur optimalen Lösung im Transport über lange Strecken, weil damit die CO₂-Emissionen entlang der gesamten Transportkette auf ein Minimum reduziert werden.
Teilweise richtig. Die Prämissen der Frage sind problematisch: sowohl die, dass E-Lkw immer Teil der optimalen Lösung sind (schließlich gibt es auch andere CO₂-mindernde Lösungen beim Lkw), als auch die, dass der Kombinierte Verkehr immer unter den Lösungen mit Schienenverkehr die optimale Lösung wäre (es gibt auch noch den Einzelwagenverkehr, der vielfach ganz ohne Lkw auskommt, und den klassischen Ganzzugverkehr). Generell wäre der Einsatz den E-Lkw im Vor- und Nachlauf des KV aber ein potenzieller Vorteil für die CO₂-Bilanz, da zu hoffen ist, dass Elektrizität bald CO₂-frei generiert wird.
Der Ausbau des Schienennetzes ist nicht notwendig, um mehr Güter auf die Bahn zu bringen. Vielmehr müssen die vorhandenen Kapazitäten besser eingesetzt werden – was dank der Digitalisierung keine große Herausforderung ist.
Falsch. Bei optimierter Nutzung des Streckennetzes unter anderem durch Digitalisierung, 740-Meter-Nutzlänge und Vollelektrifizierung auf allen Durchgangsstrecken könnte zwar erheblich mehr Güterverkehr auf dem vorhandenen Netz abgewickelt werden. Das reicht aber nicht, um den von der Bundesregierung angestrebten 25-Prozent-Marktanteil der Schiene bei zunehmendem Transportaufkommen zu erreichen. Dafür ist ein umfassender Netzausbau, insbesondere ein Vorrangnetz für den Schienengüterverkehr, nötig.
Dem Fachkräftemangel in Zeiten der Inflation können die Güterbahnen nur mit deutlich besseren Lohn- und Gehaltsstrukturen begegnen.
Richtig. Es wäre unrealistisch, zu glauben, die Branche könnte sich im Wettbewerb um Fachkräfte der allgemeinen Lohnentwicklung entziehen. Die Branche wird daher Lohnkostensteigerungen verkraften müssen. Es gibt zum anderen gerade im Schienengüterverkehr aber auch Prozesse wie zum Beispiel der Zugvorbereitung, bei denen das Rationalisierungspotenzial, somit auch das Potenzial der Personalkostenreduzierung noch nicht ausgeschöpft ist. Sollte es gelingen, das Eisenbahnnetz resilienter und leistungsfähiger zu machen, würde dies auch zu erheblich verringertem Personalaufwand führen – und Züge würden schneller und berechenbarer durchkommen.
Die im Aufbau befindliche Wasserstoffwirtschaft bringt große Chancen für die Bahnen – vor allem, weil die Wasserstraße als Alternative aufgrund des Klimawandels an Bedeutung verlieren wird.
Teilweise richtig. Die Wasserstoffwirtschaft bringt Chancen für die Bahnen, weil nicht jeder Abnehmer von Wasserstoff Zugang zu einer Pipeline haben wird und daher der Transport auf der Schiene eine Option wird. Im Transportbereich ist der Einsatz von Wasserstoff vor allem bei Lkw des Fernverkehrs eine Option, die allerdings sehr aufwendig und wenig effizient ist. Dies könnte sich im Wettbewerb der Verkehrsträger zugunsten des schon jetzt weitgehend und in Zukunft fast vollständig elektrisch durchzuführenden Schienenverkehr auswirken. Die Wasserstraße sehen wir nicht als Konkurrenten, sondern als Partner. Durch Kooperation zwischen Wasserstraße und Schiene lassen sich die Vorteile beider Verkehrsträger verbinden und Nachteile ausgleichen.
Mittelfristig werden sowohl Österreich als auch die Schweiz für sämtliche Lkw-Transitverkehre die Nutzung des KV und der rollenden Landstraße vorschreiben.
Teilweise richtig. Schon heute sind Länder wie Österreich und die Schweiz Vorreiter im Ausbau des Schienengüterverkehrs. Beide Länder werden aufgrund ihrer topografischen Lage in Zukunft ein weiter ansteigendes Interesse haben, noch mehr Lkw-Transitverkehre auf den KV und die rollende Landstraße zu verlagern.
Im Zuge der Ökologisierung des Güterverkehrs wird sich eine Renaissance des Einzelwagenverkehrs einstellen.
Richtig. Schon jetzt – vor Beginn der angekündigten Förderung des Einzelwagenverkehrs – ist festzustellen, dass gerade bei der mittelständischen und dezentral gelegenen Industrie und Logistik verstärkt Bedarf an Transporten auf der Schiene angemeldet wird, die unterhalb der Mengen liegen, die einen Ganzzug rechtfertigen. Nur ein Teil dieser Transporte – die im Übrigen ein hohes Wachstumspotenzial haben – eignen sich für den KV. Der Einzelwagenverkehr wird in Zukunft zwar keinem Boom erleben, aber zumindest wieder wachsen können, wenn jetzt die Weichen richtig gestellt werden. Digitalisierung und Rationalisierung, insbesondere auch die Digitale Automatische Kupplung und die stärkere Automatisierung des Rangierens, werden mittelfristig den Personalaufwand und die Kosten dieser Verkehrsart senken und sie damit wettbewerbsfähiger machen.
Große Schieneninfrastrukturprojekte werden sich aufgrund der Planungsbeschleunigung künftig in weniger als der Hälfte der bisherigen Zeit umsetzen lassen.
Richtig. Wenn alle Register der Planungsbeschleunigung gezogen werden, ist das möglich. Also Verzicht auf Planungsverfahren bei der Elektrifizierung und Kleinmaßnahmen, Verzicht auf gesonderte Raumordnungsverfahren, Konzentration der Abstimmung aller Betroffenen in einem voll digitalisierten straffen Planfeststellungsverfahren, Zurückweisung verspäteten Vorbringens und kurzer Instanzenzug vor Gericht.
Die Revitalisierung stillgelegter Schienenanschlüsse wird bis zum Ende des Jahrzehnts zur ökologischen Notwendigkeit.
Richtig. Schon jetzt gibt es erste Projekte bei Kunden, ihre Gleisanschlüsse zu reaktivieren. Die Tendenz ist insoweit klar positiv. Unternehmen auf dem Land setzen sich zum Teil auch vehement für die Erhaltung und Reaktivierung von Eisenbahnstrecken ein, um ihren Anschluss an das Eisenbahnnetz zu erhalten. Das ist nicht nur ökologisch richtig, sondern häufig auch ökonomische Notwendigkeit, da die Transportmengen sich auf der Straße kaum noch bewältigen lassen und der Fahrermangel sich immer stärker auswirkt. (ben)