Die Revolution der Dispo

Künstliche Intelligenz kann in vielen Bereichen den Fachkräftemangel lindern – das gilt auch im Bereich der Disposition. Einfache Rezepte gibt es hier jedoch nur für die weniger komplexen Anwendungen.

Künftig könnten Lkw von einer Künstlichen Intelligenz zum Ziel gelotst werden. (Foto: CoredesignKey/iSTock)

Stückgutnetzwerke sind sehr gut organisiert. Die Sendungsdaten erreichen den Empfangsspediteur in der Regel verlässlich einige Stunden vor der Ware und können frühzeitig verarbeitet werden. Bevor der Umschlag beginnt, sind die Tagestouren geplant und auf den Handhelds der Fahrer abrufbar. Vielleicht wurde dabei sogar darauf geachtet, dass alle Subunternehmer mit den zugewiesenen Aufträgen ähnliche Erlöse erzielen. Was zur täglichen Routine der Disponenten im Stückgutverkehr gehört, ist ein typischer Anwendungsfall für Künstliche Intelligenz.

Datenbasis zu klein

Um aber die Disposition dem Computer überlassen zu können, müssen einige Voraussetzungen geschaffen werden. Wesentliche Zutat ist ein Transportmanagementsystem, das über KI-Funktionen verfügt. Hier verfolgen die TMS-Anbieter verschiedene Ansätze, die unterschiedliche Chancen und Risiken bieten.

Manche Systeme versuchen zum Beispiel, die realen Tourenplanungen menschlicher Disponenten aus den vergangenen sechs Monaten auszuwerten. Ein intelligenter Algorithmus soll daraus lernen und erkennen, wie eine passende Tour auszusehen hat und welche Kriterien berücksichtigt werden müssen. ChatGPT arbeitet ähnlich. Der große Unterschied ist jedoch, dass diesem sogenannten „Large Language Model“ unendliche Datenmengen geschriebener Texte aus dem Internet zur Verfügung stehen, während es sich bei den Tourenplänen der letzten sechs Monate um eine vergleichsweise kleine Informationsbasis handelt.

Bei einfacheren dispositiven Aufgaben wie dem Verteilen von Stückgut mag dies unter Umständen ausreichen. Aber komplexe Planungen aus dem Bereich der intermodalen Transporte lassen sich damit nicht sinnvoll abbilden. Mal abgesehen davon, dass die von Menschenhand erstellten Planungen aus der Vergangenheit mangelhaft sein können: Ein Algorithmus, der von mittelmäßigen Disponenten lernt, produziert am Ende selbst nur Mittelmaß.

Schatten-Dispo im Hintergrund

Ein besserer KI-Ansatz ist deshalb die sogenannte Schatten-Disposition, die permanent im Hintergrund arbeitet. Diese erstellt mit der Hilfe von KI Tourenpläne, die auf Basis der gerade aktuellen Situation, einem Regelwerk und Bewertungsmaßstäben ein optimiertes Ergebnis liefern. Dabei ist das „beste“ Ergebnis die Lösung, die mit den geringsten Kosten zum Ziel führt.

Im Abstand von wenigen Minuten errechnet die KI einen neuen Vorschlag, da sich die Voraussetzungen permanent ändern – schließlich berücksichtigt die Software auch Verspätungen, Staus und andere Echtzeitdaten, durch die eine komplexe Planung gravierend beeinflusst werden kann. Tagestouren im Nahverkehr sind davon kaum betroffen. Umso mehr gilt dies für mehrtägige Trips im Fernverkehr.

Die Disponenten haben jederzeit die Möglichkeit, ihre eigene Arbeit mit den Ergebnissen der KI als Schatten-Dispo zu vergleichen. Bessere Ideen können übernommen und unpraktikable Vorschläge verworfen werden. Der Disponent bleibt demnach zumindest für die nächsten Jahre ein unabdingbarer Faktor. Erst dann, wenn die KI auch bei mehrstufigen Transporten in jedem Fall den besseren Plan liefern kann, lassen sich Disponenten weitgehend durch autonome Systeme ergänzen und ersetzen – was angesichts des Fachkräftemangels eine gute Nachricht ist.

Soft Facts als Grundlage

Bis dahin ist es jedoch noch ein langer Weg, an dessen Ende keine allgemeingültige KI-Lösung für die gesamte Transportbranche stehen wird. Zum Errechnen brauchbarer Ergebnisse braucht die KI schließlich jede Menge Informationen, die je nach Unternehmen unterschiedlich sind. Dabei geht es vor allem um die „Soft Facts“ wie die Vorlieben der Fahrer. Während Willi als frisch verheirateter Familienvater möglichst viel Freizeit zu Hause verbringen möchte, bevorzugt Igor Aufträge, die ihm möglichst viele Spesen einbringen. Ihn darf man jedoch nicht mehr nach Krefeld zum Entladen schicken, weil er sich neulich mit dem dortigen Lageristen angelegt hat.

Diese und viele andere Befindlichkeiten müssen der KI in einem ständigen Lernprozess verständlich gemacht werden. Disponenten und Softwareentwickler stehen dafür in einem permanenten Austausch. Gleiches gilt für die Veränderungen an den Soft Facts, wenn bisherige Fahrer kündigen und neue Kollegen mit anderen Präferenzen an den Start gehen.

Wie ein Azubi im ersten Lehrjahr

Ohne dieses Wissen verhält sich jede KI-Software wie ein Auszubildender im ersten Lehrjahr, der sich gerade erst mit den Lenk- und Ruhezeiten, dem Straßennetz und dem Fassungsvermögen der einzelnen Fahrzeuge befasst hat. Solche „Lehrlinge“ stehen in Form komplexer KI-Anwendungen jederzeit bereit. Aufgrund ihres riesigen Umfangs wurden sie nicht von mittelständischen Softwarefirmen, sondern von IT-Giganten programmiert. Bei Google heißen sie OR-Tools und werden Entwicklern kostenlos zur Verfügung gestellt. OR-Tools ist eine Open-Source-Softwaresuite zur Optimierung. Sie ist darauf ausgelegt, die weltweit schwierigsten Probleme in den Bereichen Fahrzeugrouting, Fluss-, Integer- und Linear-Programmierung sowie Einschränkungsprogrammierung zu lösen.

Die Herausforderung besteht darin, das zu lösende Problem in eine der bei Google verfügbaren KI-Modelle zu übersetzen. Dabei muss man zum Beispiel abstrahieren, dass die Touren von Fahrer Willi aufgrund seiner derzeitigen privaten Situation möglichst in Wien enden sollten. Für diese Leistung braucht man viel Erfahrung, Wissen und Kreativität. Das Ergebnis ist dann jedoch ein „echte“ KI-Lösung, die messbar bessere Resultate liefert.

Disponenten nicht ersetzbar

Trotzdem werden Fuhrparks niemals ganz ohne Disponenten auskommen. Bei aller Vorsorge und Programmierung gibt es im Alltag immer noch die völlig unplanbaren Ereignisse wie plötzlich erkrankte Fahrer, Fahrzeugausfälle oder Unfälle. In solchen Situationen wird immer ein Mensch entscheiden müssen, wie es im konkreten Fall weitergehen soll.

Fazit: Auch bei spezialisierten Softwareanwendungen wie der Disposition lassen sich KI-Lösungen realisieren, die diesen Namen auch verdienen. Anders als bei ChatGPT können die Algorithmen hier aber nicht auf unendliche Datenmengen zurückgreifen. Die Anzahl der bisher disponierten Touren als Lernbasis für die Künstliche Intelligenz ist selbst bei großen Logistikdienstleistern begrenzt. Vor diesem Hintergrund sind andere Ansätze gefragt, wie sie zum Beispiel die OR-Tools von Google bieten. (ben)

Der Autor: Ralf Ostholt ist Entwicklungsleiter der Cargo Support GmbH

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