Supply Chain Management: So wird man die Nummer eins

Schneider Electric belegt im globalen Supply Chain Ranking der Marktforscher von Gartner den ersten Platz. Der verantwortliche Manager Thierry Tricot erklärt, wie der französische Industriekonzern seine Lieferkette in fragilen Zeiten steuert.

Muss immer wieder mit unerwarteten Ereignissen rechnen: Thierry Tricot, bei Schneider Electric verantwortlich für die Lieferketten in Europa. (Foto: Schneider Electric)

Die Pandemie mag weitgehend aus dem Blick geraten sein. Doch Schneider Electric, ein großer Anbieter von Energie- und Automatisierungslösungen mit Sitz nahe Paris, hat sie nachhaltig verändert. „Ähnlich wie viele Industriebetriebe hatten auch wir mit Materialengpässen zu kämpfen, insbesondere bei Halbleitern und Elektronikkomponenten“, sagt Thierry Tricot im DVZ-Gespräch. Er ist seit Dezember 2022 Senior Vice President Global Supply Chain Europe bei dem Konzern.

Man habe viel über das eigene Ökosystem gelernt. „Heute kann ich sagen, dass wir uns nicht nur von den Störungen erholt, sondern unsere Lieferkette signifikant verstärkt und angepasst haben“, betont Tricot. Allerdings bleibt die Gegenwart von Veränderungen geprägt: „Jedes Jahr bringt neue, unerwartete Ereignisse. Unser wichtigstes Learning ist daher Anpassungsfähigkeit.“

Besonders anspruchsvoll ist dabei der vorgelagerte Teil der Lieferkette. „Dieser Bereich ist sehr wichtig für uns, denn wir können natürlich nicht alles vorfertigen und vorproduzieren. Und wir haben 20.000 Zulieferer, und zwar sowohl Tier-2- als auch Tier-3-Lieferanten“, erläutert Tricot. „Vergangenes Jahr haben wir Produktionskomponenten im Wert von 10,4 Milliarden Euro eingekauft.“

Da sich die Zukunft nicht mit absoluter Sicherheit vorhersagen lasse, sei es entscheidend, die Reaktionsfähigkeit und Notfallpläne kontinuierlich zu verbessern. Auch hier hat sich viel verändert: „Früher haben wir versucht, selbst kleinste Details noch um 0,001 Prozent zu optimieren und alles auf maximale finanzielle und operative Effizienz auszurichten. Heute richten wir den Blick stärker auf Was-wäre-wenn-Szenarien und präventives Denken für alle Eventualitäten, um Risiken im Vorfeld zu mindern und strukturelle Widerstandsfähigkeit für die Zukunft aufzubauen“, fügt Tricot hinzu.

Das gilt auch für die Klimaveränderung mit Extremwetter wie Sturm und Hochwasser. Klimaanpassung sei schon jetzt im täglichen Geschäft wichtig. „Bei neuen Projekten, wie dem Bau einer Anlage oder einer Partnerschaft mit Lieferanten, berücksichtigen wir solche Risiken heute viel stärker als noch vor zehn Jahren.“

„Power of Two“

Als Teil seines Business Continuity Managements verstärkt und verbessert der Konzern kontinuierlich seine Strukturen. „Im Rahmen unserer Lieferkettenstrategie entwickeln wir ‚Power of Two‘, um sowohl upstream als auch downstream immer eine zweite Quelle und zusätzliche Kapazität bereitzuhalten. Diese können wir schnell aktivieren, falls das Hauptsystem auf Probleme stößt“, erläutert Tricot. Das Konzept wird regelmäßig getestet und wurde bereits erfolgreich bei Überschwemmungen angewendet, um die Auswirkungen auf die Kunden zu minimieren. Im Vergleich zu früher gebe es dabei einen großen Unterschied: „In der Vergangenheit konnte man sich auf extreme Ereignisse vorbereiten.“ Inzwischen seien diese viel häufiger zu beobachten.

Kontrolltürme

Bei allen Herausforderungen helfen dem Unternehmen Kontrolltürme für den gesamten Warenein- und -ausgang – sowohl auf regionaler Ebene als auch auf globaler Ebene. Tricot: „Damit überwachen wir unsere Lieferanten, aber auch alle internen Warenflüsse, etwa die Lieferung von Komponenten an ein anderes Werk, in dem das Endprodukt fertiggestellt wird, und die Auslieferung unserer Produkte an die Kunden.“ Das Ganze läuft in Echtzeit, was die Fähigkeit, schnell auf unerwartete Ereignisse zu reagieren, erheblich verbessert hat, da nun sofort auf die relevanten Informationen zugegriffen werden kann.

Ein weiterer Ansatz für mehr Resilienz entlang der Supply Chain ist die Regionalisierung, wie es bei Schneider Electric heißt. „Wir versuchen, näher am Markt zu produzieren und dabei ein Gleichgewicht zwischen beispielsweise den erforderlichen Investitionen, der Verfügbarkeit oder Nichtverfügbarkeit des Materials herzustellen.“

Das beinhaltet auch Multishoring, also die Diversifizierung der Lieferanten. Bei Schneider Electric bedeutet das, in jeder großen Region, also etwa Europa, China, Nordamerika und Südamerika, das gesamte Ökosystem vor Ort aufzubauen. „Wenn wir bisher von Lieferanten weit entfernt von der Region abhängig waren, entwickeln wir nun regionale Lieferanten, die näher an unseren Fabriken sind, um den Einfluss unerwarteter Ereignisse zu begrenzen.“ Dies habe auch den positiven Nebeneffekt kürzerer Transportzeiten und einer Reduzierung der CO2-Emissionen.

Thierry Tricot

Seit Dezember 2022 ist der gebürtige Franzose Senior Vice President von Global Supply Chain Europe bei Schneider Electric. In dieser Position leitet er das operative Geschäft und die Transformation der Fertigungs- und Vertriebsaktivitäten in der Region. Er trägt die Verantwortung für die gesamte Lieferkette, die Bereiche Sicherheit, Qualität, Digitalisierung, Kundenzufriedenheit, Beschaffung sowie die Prozesse entlang der Lieferkette – einschließlich Fertigung und Montage. Er ist bereits seit 14 Jahren bei Schneider Electric tätig und derzeit in Deutschland ansässig.

Und auch bei der eigenen Fertigung ist das Unternehmen bestrebt, möglichst nahe an den Märkten und Kunden zu produzieren, um lange Transportwege per Lkw oder Schiff zu vermeiden. „Unser Ziel ist es, rund 90 Prozent der verkauften Güter in der jeweiligen Region herzustellen“, unterstreicht Tricot. Derzeit seien es etwa 83 Prozent. „100 Prozent wären natürlich ideal, doch bestimmte Rohstoffe oder Produkte lassen sich nicht überall beschaffen“, fügt der Manager hinzu.

Dazu werden alle Warenströme, sowohl die eingehenden als auch die ausgehenden, simuliert und dann beispielsweise die Lager – sowohl die eigenen als auch die von Logistikdienstleistern betriebenen – optimal positioniert. Tricot: „Die Bestände werden an den besten Standorten platziert, um die Transportdauer, die Kosten und den CO2-Ausstoß zu minimieren und zu optimieren.“

Nearsourcing bei Elektronikteilen

Als Lehre aus der Elektronikkrise nach der Pandemie hat Schneider Electric überdies den Großteil der Produktion von Leiterplatten und elektronischen Karten, die zuvor aus Asien importiert wurden, nach Europa verlagert. Dazu wurden Partnerschaften mit europäischen Lieferanten aufgebaut. Zusätzlich wurde das Design dieser Produkte angepasst, um eine zweite Lösung mit Komponenten aus alternativen Quellen zu ermöglichen.

Das gilt auch für die Transportwege: Kürzlich musste etwa die Art und Weise der Lieferung in den Nahen Osten angepasst werden. Ein weiteres Beispiel waren Streiks in einigen Häfen. „Wir sind so organisiert, dass wir auf andere Häfen in Europa umschalten können. Wir wissen im Voraus, ob sich die Lieferzeiten um einen oder zwei Tage verlängern, und können dies entsprechend mit unseren Kunden organisieren.“

In Bezug auf die Digitalisierung richtet sich der Blick bei Schneider Electric gegenwärtig besonders auf künstliche und generative Intelligenz, um Kosten und das eingesetzte Kapital zu reduzieren. „Wir haben ein Team, das damit nicht nur Lösungen für unsere Kunden entwickelt, sondern auch an unseren eigenen Abläufen arbeitet. Ich sehe hier zusätzliches Potenzial im digitalen Sektor, sowohl im Logistikbereich – und zwar für vor- wie für nachgelagerte Prozesse – als auch in der Effizienz unserer Produktionsstätten.“

Es gebe bereits erste erfolgreiche Beispiele, bei denen ein Mitarbeiter oder Vorgesetzter Fragen in seiner eigenen Sprache stellen kann und das System, basierend auf den verfügbaren Daten im Data Lake ‚EcoStruxure Resource Advisor Copilot‘, die passende Antwort in der Sprache des Mitarbeiters oder Vorgesetzten liefert. „Das beschleunigt die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen der Organisation“, betont der Supply Chain Manager.

In jeder großen Region, insbesondere in Europa, hat Schneider Electric eine Fabrik oder Produktionsstätte, die innovative Technologien und fortschrittliche digitale Methoden nutzt, um industrielle Prozesse zu optimieren. Ein Beispiel: Das Werk in Le Vaudreuil in der Nähe von Paris, das elektromagnetische Schalter herstellt, wurde vor zwei Jahren vom Weltwirtschaftsforum als Leuchtturm für Nachhaltigkeit anerkannt.

Schneider Electric

Das Unternehmen bietet Produkte und Dienstleistungen zur Optimierung von Energieeffizienz und Nachhaltigkeit unter anderem für Gebäude, Rechenzentren, Infrastruktur und Industrie an. Es beschäftigt etwa 150.000 Mitarbeiter in mehr als 100 Ländern, davon 80.000 im Geschäftsbereich Global Supply Chain. 2023 erzielte Schneider Electric einen Umsatz von 35,9 Milliarden Euro.

In Le Vaudreuil kommt das industrielle Internet der Dinge (IoT) zum Einsatz, mit Sensoren, die an digitale Plattformen angeschlossen sind, um in Echtzeit zu überwachen. „Wir konnten den Materialabfall um fast 20 Prozent und die CO2-Emissionen um 25 Prozent reduzieren, während wir das gleiche Produktionsvolumen aufrechterhalten haben“, berichtet Tricot. „Das Werk verfügt über einen geschlossenen Wasserkreislauf, so dass kein Wasser abgeleitet wird. Dies wird auch durch KI-unterstützte Analysen überwacht, was es uns ermöglicht hat, den Wasserverbrauch um 60 Prozent zu reduzieren.“

Für den Datenaustausch in Echtzeit wurde eine Plattform namens Exchange entwickelt, die für alle Partner, Kunden und zum Teil auch Zulieferer der zweiten Ebene offen ist und auf der sie ihre eigenen Lösungen auf Basis von Schneider- oder sogar Nicht-Schneider-Produkten teilen können.

Nachhaltigkeit im Fokus

Und natürlich stehen im Konzern auch Nachhaltigkeitsthemen auf der Agenda. „Wir verfolgen zum Beispiel einen klaren Ansatz, um Einwegplastik in unseren Verpackungen durch Papier, Karton oder wiederverwendbare Materialien zu ersetzen“, berichtet Tricot. „Dies geschieht in enger Zusammenarbeit mit Lieferanten und Kunden, um sicherzustellen, dass die neue Verpackung geeignet ist.“

Beim Transport will der Konzern die CO2-Effizienz bis 2025 um 15 Prozent verbessern. Ein besonderer Schwerpunkt lag 2023 auf der Verringerung der Luftfracht. Durch die Verlagerung auf den Straßen-, Schienen- und Seeverkehr sowie die verstärkte Nutzung multimodaler Lösungen konnten die Tonnage um 9 Prozent und die Gesamtemissionen im Güterverkehr um 1,6 Prozent gegenüber 2021 gesenkt werden. Dazu mussten zum Teil auch die Lieferkette angepasst und längere Zeiträume akzeptiert werden.

Aus Sicht von Tricot sind die großen Logistikdienstleister in puncto Nachhaltigkeit sehr engagiert. „Ich besuche regelmäßig unsere Lager sowie die unserer Partner, mit denen wir uns auch dazu und insbesondere zum Thema E-Fahrzeuge austauschen. Wir selbst setzen diese im Nahverkehr bereits ein.“ Aus Sicht von Tricot führt kein Weg daran vorbei, für nachhaltigere Transporte mehr zu bezahlen: „Es gibt dazu keine Alternative. Anfangs mag Nachhaltigkeit teurer erscheinen, aber sobald man damit beginnt, findet man Lösungen, um die Kosten auszugleichen. Der beste Weg, etwas zu beginnen, ist einfach anzufangen.“ (cs)

Event-Tipp: Die Zukunft des Supply Chain Managements

Auf der BVL Supply Chain CX in Berlin könnte am Donnerstag (24. Oktober) die Session „The Future of Supply Chain Management“ spannend werden. Lieferkettenmanager agieren heute und künftig in einer brüchigen (brittle), ängstlichen (anxious), nicht-linearen (non-linear) und unbegreiflichen (incomprehensible) „BANI-Welt“. Sie optimieren Lieferketten im Hinblick auf Kosteneffizienz, Leistungsfähigkeit, Nachhaltigkeit und – getrieben durch die oben genannten Bedingungen – Agilität. Dafür müssen sie Maßnahmen ergreifen und mitunter völlig neu denken. Supply-Chain-Softwareanbieter sind eine wichtige Quelle für Innovationen. Andrew Bell, Chief Product Officer von Kinaxis, wird seine Sicht auf die Zukunft des Supply Chain Managements darlegen. Er und Arne Flemming, CSCO von Bosch, werden sich zusammen mit dem neuen BVL-Vorstandsvorsitzenden Kai Althoff, CEO von 4flow, über das Thema austauschen. 

Donnerstag, 24. Oktober, 9.30 bis 10.15 Uhr, Hotel Estrel Berlin, Congress Area, Main Stage

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