Klimaschutz wird zum Business Case
In den vergangenen Jahren sei das Thema Nachhaltigkeit für Nina Göntgen-Voss immer präsenter geworden. „Ich habe in meinem privaten Umfeld versucht, Plastik zu reduzieren, ich habe meine Ernährung umgestellt, erst auf vegetarisch und vor einem Jahr auf vegan.“ Der Schlüsselmoment für sie war aber vor etwas mehr als zwei Jahren, als sie den Dokumentarfilm „Chasing Coral“ gesehen habe, der das klimabedingte Sterben von Korallenriffen thematisiert. „Ich habe Rotz und Wasser geweint“, sagt sie. „Es hat mich so fertig gemacht, dass das menschliche Tun solche Auswirkungen auf Ökosysteme hat, die sich überhaupt nicht wehren können. Da wurde mir klar, dass es nicht reicht, nur etwas im privaten Umfeld zu unternehmen, sondern ich muss es in alles, was ich tue und alles, was ich bin, einfließen lassen.“
Göntgen-Voss verantwortet als Director Sustainability das Thema Nachhaltigkeit bei der digitalen Spedition Forto mit Sitz in Berlin. Sie sprach beim digitalen Pre-Event zum Deutschen Logistik-Kongress mit dem Titel „Chance Nachhaltigkeit – Erfolgsgeschichten aus der Praxis“. Es wurde ausgerichtet von Logistics4Future, einem Netzwerk innerhalb der Bundesvereinigung Logistik (BVL), das 2020 auf Initiative von Nachwuchskräften entstanden ist.
Göntgen-Voss gehört mit zu den ersten Beschäftigten von Forto. Sie ist bereits seit fünfeinhalb Jahren im 2016 gegründeten Unternehmen (damals Freighthub), das sich gerade zu einem Supply-Chain-Lösungsanbieter entwickelt, wie sie sagt. „Die Frachttransporte sind für 7 Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich“, macht Göntgen-Voss deutlich. „Nachhaltigkeit ist eine Verantwortung, die wir alle gemeinsam tragen. Egal ob Individuum, Organisation, Dienstleister, Kunde oder Wettbewerber: Wir sitzen alle im gleichen Boot. Es ist unser aller Aufgabe, dafür zu sorgen, dass unser Planet auch für künftige Generationen noch lebenswert ist“, betont sie.
Seit zwei Jahren sei Forto dabei, seinen CO2-Fußabdruck zu reduzieren. „Wir haben zudem eine Möglichkeit gesehen, über unsere Organisation hinaus zu gehen und haben eine Nachhaltigkeitsstrategie entwickelt.“ Das Ziel: Bis 2025 will Forto 100 Prozent klimaneutrale Operations anbieten. Dies beinhaltet also sowohl Forto selbst als Unternehmen als auch die Transportservices, die den Kunden angeboten werden.
Im Markt herrsche immer noch eine riesige Intransparenz, wie viele CO2-Emissionen der Transport einer Sendung verursache. „Anfang des Jahres haben wir die Basistransparenz über die Emissionen pro Sendung geschaffen und haben dann querbeet über alle Kunden Kompensation in Kooperation mit Planetly angeboten.“ Mit der Software des Berliner Start-ups können Firmen ihre Emissionen verstehen, reduzieren und durch Klimaschutzprojekte ausgleichen, wie Planetly verspricht.
Klimaneutralität ist nun ein neuer Standard, den Forto immer erst einmal mit anbietet, der aber von den Kunden abgewählt werden kann. „Kompensation ist zwar noch keine Lösung, aber schafft Bewusstsein und hat eine direkte Wirkung“, sagt Göntgen-Voss. Der nächste Schritt sei „die volle Visibilität“, die Daten sollen also über die Forto-Plattform für die Kunden sichtbar werden. Und dann gehe es darum, Reduktionspotenziale aufzuzeigen. „Wir wollen unsere Kunden unterstützen, nachhaltige, datenbasierte Entscheidungen zu treffen.“
Die Planetly-Software erlaubt laut Mitgründerin und Geschäftsführerin Anna Alex unter anderem detaillierte Analysen von Logistikemissionen. Die Lösung könne den CO2-Fußabdruck für alle Transportarten messen, also für Straße, Schiene, See, Luft und Binnenschifffahrt. „Firmen können bis auf das Produkt und die einzelnen Prozessschritte die Emissionen verstehen“, sagt Alex, die auch Mitglied im Nachhaltigkeits-Beirat von Vodafone ist. Für die Berechnungen würden zwar nicht immer alle Daten in den Firmen vorhanden sein. „Diese Datenlücken können wir aber füllen, weil wir große Datenbanken im Hintergrund angebunden haben.“ Wenn ein Unternehmen zum Beispiel nicht wisse, mit welchem Schiff ein Produkt angekommen sei, aber grob den Tag und den Hafen kenne, „dann können wir den Frachter mit hoher Wahrscheinlichkeit ermitteln“, sagt Alex. Nur mit dieser Granularität könne man Reduktionsmaßnahmen ableiten. Planetly versuche deshalb immer, von Anfang an die akkuratesten Daten zu bekommen. „Wir wollen die CO2-Emissionen zu einer aktiven Kennzahl machen, die im Unternehmen gemanagt und gemessen wird.“
Zu den etwa 150 Kunden gehören neben Forto zum Beispiel auch Siemens, Kärcher, Hello Fresh sowie das Medienunternehmen The Economist, der Online-Möbelhändler Home24 oder der Autobauer BMW. Das Start-up hat bereits mehr als 7 Millionen Euro von Risikokapitalgebern eingesammelt und beschäftigt nach knapp zwei Jahren mehr als 100 Menschen.
Der Weg zur klimaneutralen Zukunft werde die größte Transformation sein, die die Wirtschaft je erlebt habe, ist Alex überzeugt. Sie sei aber optimistisch, dass es gelingen wird – und sie sieht Parallelen zur Digitalisierung: „Auch bei der nachhaltigen Transformation werden diejenigen Unternehmen profitieren, die sich früh bewegen und ihre Emissionen reduzieren“. Es sei für alle so, als würde man eine völlig neue Brille aufsetzen. „Wir schauen nicht mehr nur auf den Preis, sondern auch auf den Ressourcenverbrauch für einen Prozessschritt oder ein Produkt. Das ist ein ganz neuer Blick auf die Welt“, sagt Alex. Sie sehe aber Unternehmen, die sich genau in die richtige Richtung bewegen.
Unternehmen, die bereits seit Jahren besonders engagiert sind, nennt Alex „Carbon Heroes“. Dazu zähle sie zum Beispiel The Economist Group, die schon seit vielen Jahren ihren CO2-Fußabdruck analysiere und Reduktionsziele veröffentlicht habe. Gerade letzteres könne intern in einem Unternehmen noch einmal enorm viel Energie freisetzen, sagt Alex und fügt hinzu: „Es wollen alle das Richtige machen, man muss ihnen nur die richtigen Tools an die Hand geben, die die Transparenz ermöglichen.“ Andere Firmen wiederum würden die Reduktionsziele an Management-Boni knüpfen.
People, Planet, Profit
„Nicht nur die Wirtschaft, sondern wir als Menschheit und als Gesellschaft müssen durch eine unfassbar riesige Transformation gehen“, ergänzt Göntgen-Voss. Und es reiche nicht mehr aus, nur allein nach Gewinn zu optimieren, sondern nach dem sogenannten Triple-Bottom-Line-Ansatz People, Planet, Profit. Nachhaltigkeit habe viel mit Bewusstsein zu tun, „und zwar dafür, dass das, was ich tue, eine Wirkung hat auf die Menschen und die Umwelt um mich herum – und dass das, was ich hier auf der einen Seite der Welt mache, eine Wirkung auf der anderen Seite der Erde hat“, fährt Göntgen-Voss fort. Das komplexe Zusammenspiel aus Ökologie, Ökonomie und Sozialem mache das Thema Nachhaltigkeit allerdings schwer greifbar. „Hinzu kommt, dass man immer sehr weit in die Zukunft schauen muss, weil es eben um Auswirkungen auf künftige Generationen geht.“
Viele Jahre seien große Teile der Klimakrise auf den Schultern der Endkunden abgeladen worden, sagt Alex von Planetly. „Die Kunden müssten die nachhaltigen Produkte wählen, dann bewegten sich auch die Unternehmen und dann folge der Rest“, habe es immer geheißen. Doch das sei ein Fehler gewesen, sagt Alex. „Selbst für mich ist es schwierig, in einen Supermarkt zu gehen und zu sagen: Das hier ist jetzt ein wahrhaft nachhaltiger Warenkorb, den ich zusammengestellt habe. Die Verbraucher spielen eine wichtige Rolle, aber letztlich sind es die Unternehmen, die am langen Hebel sitzen.“
Immer mehr Firmen werde dies auch bewusst, beobachtet Göntgen-Voss. „Wir Unternehmen sind es doch, die jeden einzelnen Prozess kennen sollten. Diese Transparenz ist als erster Schritt wahnsinnig wichtig. Der Endverbraucher kann diese Komplexität gar nicht erfassen“, fügt sie hinzu und fordert: „Deshalb sollte man Unternehmen verpflichten, gewisse Daten und Informationen bereitzustellen“. Zudem müsste ihrer Ansicht nach beim Bildungssystem angesetzt werden, „damit alle Menschen dazu angehalten werden, kritische Fragen zu stellen und Informationen einzufordern. Denn je mehr und öfter man als Konsument nachfragt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch etwas passiert“, betont Göntgen-Voss. „Aber etwas zu verändern und den Hebel umzulegen – das ist die Verantwortung der Unternehmen.“
Tchibo: Kriterien für Ausschreibungen
Sina-Maria Schoenlein, Projektmanagerin Logistik & Nachhaltigkeit beim Hamburger Kaffeeröster und Handelskonzern Tchibo, sieht mit Blick auf die Transportemissionen die Verlader in der Pflicht, die Nachfrage nach nachhaltigen Lösungen zu signalisieren. Deshalb sei Tchibo gerade dabei, Nachhaltigkeitskriterien in den Ausschreibungsprozessen zu verankern. Die Transformation werde etwas dauern, nicht jeder werde die Bedürfnisse sofort erfüllen können. Aber irgendwann werde die Spedition oder der Dienstleister Nachhaltigkeit als Wettbewerbsvorteil sehen und dafür belohnt, sagt Schoenlein. Es gehe darum eine Basis zu schaffen, „auf der man mit Dienstleistern zusammenarbeitet, die die gleiche Philosophie haben und in Sachen Nachhaltigkeit vorankommen wollen“. Der Schritt sei ein Schwerpunkt der 2020 unter dem Namen „Anpacken 2030“ entwickelten Nachhaltigkeitsstrategie für die Tchibo-Logistik.
Weiterer zentraler Bestandteil ist laut Schoenlein eine realitätsnahe Bilanzierung logistischer Emissionen, um einen besseren Überblick zu bekommen und um die Wirkung von Maßnahmen sichtbar machen zu können. In der Praxis basiere die Bilanzierung heute meist auf Durchschnittswerten. „Wir prüfen nun die Möglichkeit, die Emissionen auf Basis von tatsächlichen Verbrauchsdaten der Transportdienstleistungen bilanzieren zu können.“ Dies setzt aber einen Datenaustausch voraus. In ersten Gesprächen mit Spediteuren sei deutlich geworden, dass dies angesichts sensibler Informationen schwierig werden könnte.
„Wir überlegen nun, wie man zum Beispiel eine neutrale Organisation dazwischenschalten kann, die den Datenaustausch managt und für alle Seiten einen fairen Prozess entwickelt“, sagt Schoenlein weiter. Weiterer Schwerpunkt sei es, selbst nachhaltige Maßnahmen zu entwickeln. Und als „unfassbar wichtig“ bezeichnet die Managerin Kooperationen. Die verschiedenen Blickwinkel von Unternehmen und der Austausch mit ihnen seien „extrem wertvoll“, wenn es darum gehe, die ökologischen Herausforderungen anzugehen.
Allein der Transportbereich sei ein gutes Beispiel, wie komplex und vielfältig die Aufgabe in der Logistik sein kann. Da helfe nur, Bewusstsein zu schaffen, mit seinen Dienstleistern zu sprechen, gemeinsam agieren. „Wir als Unternehmen sind da gefragt, dieses Bewusstsein in die Lieferkette zu tragen“, fügt Schoenlein hinzu. Das Vermeiden und Bündeln von Transporten sowie das Optimieren der Füllgrade in den Lkw bezeichnet sie als „low hanging fruits“, also eher als leicht umzusetzende Maßnahmen. Die Logistik und der Transport rückten bei den Verbrauchern immer mehr in den Vordergrund. Deshalb sei eine gesamtheitliche Betrachtung auf jeden Fall der richtige Weg. Wichtig sei aber, dass bei alternativen, nachhaltigen Lösungen die logistische Funktionalität gegeben sein muss. Das sei oft eine Herausforderung.
Bei Tchibo ist die Nachhaltigkeit laut Schoenlein seit 2006 als Bestandteil der Geschäftstätigkeit festgeschrieben. Es sei wichtig, alle mit ins Boot zu holen und den Austausch auch zu suchen. „Ich habe zum Beispiel Runden für den Austausch eingeführt. Dort wähle ich mich alle sechs Wochen ein und erzähle von Projekten, stelle Fragen oder biete Gastvorträge zu zum Beispiel alternativen Antrieben an.“ Der Begriff Nachhaltigkeit müsse permanent in den Köpfen der Mitarbeiter präsent bleiben. Die Projektmanagerin habe im vergangenen Jahr Workshops mit der gesamten Logistikabteilung gemacht. „Da kommen so viele gute Ideen, auf die ich alleine nie gekommen wäre.“
Göntgen-Voss von Forto ergänzt: „Alle Mitarbeiter einer Firma, egal in welcher Position, tragen eine unternehmerische Verantwortung.“ Jeder könne etwas sagen oder etwas bewegen. Letztlich müsse aber immer das Leitungsteam gewonnen werden, um das Ganze in der Strategie zu verankern. Forto habe seit Anfang des Jahres ein Nachhaltigkeitsteam, das rasant wachse. Dort sei – wie bei Tchibo – aber nicht alles zu dem Thema gebündelt, sondern dieses Team solle eher als Beratung für die ganze Firma dienen. „Wir bauen Produkte auf, unterstützen aber auch alle Initiativen, die aus dem Unternehmen kommen.“ Es gebe „jede Menge intrinsische Motivation“. Man müsse nur die Wege und Systeme bauen, auf und in denen sich die Mitarbeiter entfalten können.
Sie rät allen Unternehmen dazu, auch schon mit Kleinigkeiten anzufangen. Denn schon das habe Strahlkraft in Richtung der eigenen Mitarbeiter, aber auch der Kunden. Als Beispiele nennt Göntgen-Voss das Umstellen von Kuh- auf Hafermilch im Büro oder das Abändern von Reisekostenrichtlinien oder aber auch das Umstellen von Bahntransporten auf Grünstrom.
Mitunter komme der Impuls, sich intensiver mit dem Thema Nachhaltigkeit zu beschäftigen, aber auch von den Mitarbeitern selbst – oder sogar von den Bewerbern, wie Anna Alex von einem Kunden berichtet, bei dem der Kandidat sich nach dem CO2-Fußabdruck und der Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens erkundigte. Zudem schauten die Konsumenten immer genauer hin. Und zunehmend fließe Kapital in Unternehmen, die sich in Sachen Nachhaltigkeit besonders engagieren. Auch die Politik käme jetzt „richtig in Schwung“, meint die Expertin und ist deshalb überzeugt: „Diese vier Kräfte gemeinsam machen Klimaschutz inzwischen für Unternehmen zu einem Business Case. Denn in Zukunft wird ineffizientes Verhalten und der Ausstoß von CO2 teuer werden.“
„Es wird ja oft gesagt, dass der Logistiksektor einer der letzten sein wird, der dekarbonisiert wird“, fügt Göntgen-Voss hinzu. „Dadurch, dass sich aber so viele Menschen aktuell mit dem Thema beschäftigen und das Bewusstsein wächst, baut sich gerade ein Momentum auf.“ Es gebe so viel Kooperation, dass es beinahe schon so aussehe, als würde es deutlich schneller gehen, als ursprünglich einmal gedacht. „Weltweite Zusammenarbeit kann Berge versetzen“, davon ist sie überzeugt.