Der Frieden geht – die Unsicherheit kommt

Mit der Aussicht auf ein Ende der Corona-Maßnahmen, einer langsamen Entspannung in den Supply Chains und gut gefüllten Auftragsbüchern sah alles nach Aufschwung aus. Der Ukraine-Krieg verstärkt nun aber die Inflation. Zudem drohen weitere Lieferkettenstörungen.

Erst Corona, Lieferengpässe, steigende Energiepreise und nun ein Krieg: Russlands Angriff auf die Ukraine könnte den erhofften Frühjahrsaufschwung abwürgen. (Illustration: Carsten Luedemann)

Der Ukraine-Krieg dürfte den konjunkturellen Aufholprozess verzögern. Steigende Preise für Rohstoffe könnten die Inflation weiter anheizen und Unternehmen belasten. Die Importpreise waren bereits im Januar um 26,9 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Einen größeren Anstieg hatte es zuletzt im Oktober 1974 in der ersten Ölpreiskrise gegeben (28,8 Prozent). Das hohe Niveau ist vor allem durch die stark gestiegenen Preise für Erdgas begründet. Diese lagen mehr als viermal so hoch wie im Vorjahresmonat. Die Preise für in Deutschland erzeugte und verkaufte Produkte lagen zu Jahresbeginn 25 Prozent über dem Niveau von Januar 2021. Laut Statistischem Bundesamt war dies der höchste Anstieg der Erzeugerpreise gegenüber einem Vorjahresmonat seit Beginn der Erhebung 1949.

Die gestiegenen Strom- und Gaspreise sind inzwischen für 88 Prozent der Firmen aus dem Mittelstand eine starke oder existenzbedrohende Herausforderung. Das hat eine ­Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) unter 400 Firmen im Februar ergeben. „Aktuell nehmen Lieferengpässe bei Rohstoffen und Zwischengütern nach einigen Wochen der Entspannung an den Märkten deutlich zu. Der Krieg in der Ukraine sorgt in Unternehmen für zusätzliche große Unsicherheit beim Import von Rohmetallen und metallhaltigen Vorstoffen“, sagt BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Es seien größere Engpässe für kritische Rohstoffe absehbar, etwa im Bereich der Elektromobilität. „Wir müssen mit weiteren empfindlichen Preissteigerungen rechnen“, fügt Russwurm hinzu.

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Peter Adrian, warnt konkret vor Lieferverzögerungen in der Autoindustrie. Grund seien mögliche ­Lieferausfälle bei Palladium aus Russland. Das Edelmetall wird für den Bau von Katalysatoren benötigt. Bei Palladium hat Russland laut Prof. Hubertus Bardt vom Institut der deutschen Wirtschaft einen Weltmarktanteil von 40 Prozent. „Hier drohen weitere Störungen der Lieferkette für die Autoindustrie“, sagt auch Bardt. Drei Viertel der deutschen Importe aus Russland entfielen auf Gas, Öl und Kohle. Ein weiteres Achtel seien Eisen und Stahl, Kupfer und Kupferprodukte sowie Edelmetalle. Das Handelsniveau mit Russland sei zwar eher gering, aber höhere Gas- und Strompreise sowie zusätzliche Lieferkettenprobleme und direkte Einschränkungen wirkten ebenfalls als Wachstumsbremsen.

In der Autobranche fehlen Kabelsätze

In der Autoindustrie kämpft Volkswagen bereits mit einem Teilemangel. Betroffen seien mehrere Modelle der Tochter Skoda. Wegen fehlender Teile aus der Ukraine sei man gezwungen gewesen, mit Beginn dieser Woche die Herstellung des Elektroautos Skoda Enyaq iV einzuschränken, teilte das Unternehmen im tschechischen Mlada Boleslav am Dienstag mit. In den VW-Werken in Zwickau und Dresden ruht in dieser Woche für einige Tage die Fertigung, weil aus der West-Ukraine zugelieferte Kabelsätze fehlen. Der größte Autokonzern Europas kündigte am Dienstag weitere Ausfälle in den kommenden Wochen für Wolfsburg, Hannover sowie in einigen Komponentenfabriken an. In Emden ist die Lage noch unklar. BMW kündigte am Dienstag wegen Lieferengpässen ebenfalls Produktionsstopps wegen fehlender Kabelbäume aus der Ukraine an.

VW-Chef Herbert Diess richtete eine Arbeitsgruppe ein, um die Folgen des Krieges für das Netz der weltweit mehr als 40.000 Lieferanten seines Konzerns zu analysieren. Aus Wolfsburg heißt es noch betont zurückhaltend, die Lage könne „zu Anpassungen der Produktion an einzelnen Standorten führen“. Nach Angaben des Branchenverbands VDA gibt es 49 Fertigungsorte deutscher Zulieferer und Hersteller in Russland und der Ukraine.

75 Prozent melden Materialmangel

In einer branchenübergreifenden Umfrage des Münchner Ifo Instituts meldeten im Februar drei Viertel der Industriefirmen Engpässe bei Vorprodukten und Rohstoffen (Januar: 67,3 Prozent) – in der Autoindustrie und auch im Maschinenbau waren es 89 Prozent. Dicht dahinter folgen die Hersteller von Datenverarbeitungsgeräten und elektrischen Ausrüstungen mit jeweils 88 Prozent. „Für die Industrie bleibt es somit schwierig, die sehr gute Auftragslage in Produktion umzusetzen“, sagt der Leiter der Ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe.

Zahlreiche Einkäufer meldeten im Februar, dass sich die Vorlaufzeiten in der Beschaffung erneut verlängerten. Allerdings gingen die Verzögerungen zum achten Mal in den vergangenen neun Monaten zurück und fielen so gering aus wie seit November 2020 nicht mehr, wie IHS Markit berichtet. Der englische Finanzdienstleister erhebt im Auftrag des Bundesverbands Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME) den Einkaufsmanagerindex für die deutsche Industrie. Dieser ist im Februar auf 58,4 Punkte gesunken, nach 59,8 Zählern im Januar. Mehr als 50 Punkte signalisieren ein Wachstum gegenüber dem Vormonat. Der wichtige Frühindikator ist eine gewichtete Summe der Messwerte für Neuaufträge, Produktion, Beschäftigung, Lieferzeiten und Vormateriallager.

„Da die Auftragszuwächse die Produktionsrate übertraf, kam es im Februar zu einem signifikanten Anstieg der Auftragsbestände – dem stärksten seit vier Monaten“, teilte IHS Markit am Dienstag mit. Die Industriebetriebe erhalten bereits seit Juni 2020 beständig mehr Aufträge, als sie abarbeiten können. Die Reichweite stieg laut Statistischem Bundesamt im Dezember auf 7,7 Monate. Ein wesentlicher Grund dafür dürften Lieferengpässe bei Vorprodukten sein.

Die Bestände an Fertigwaren gingen laut IHS Markit im Februar leicht zurück, womit eine dreimonatige Wachstumsphase endete. Ihre Vormateriallager hätten die befragten Firmen weiter aufgestockt – in erster Linie, um die Sicherheitsbestände zu erhöhen und das Risiko von künftigen Lieferverzögerungen einzudämmen, wie es weiter heißt. „Folglich wuchs die Einkaufsmenge im Berichtsmonat ein weiteres Mal kräftig an, wenngleich das jüngste Plus das geringste seit vier Monaten war.“

Weiter Probleme im Einzelhandel

Auch im deutschen Einzelhandel haben sich die Probleme wieder verstärkt. Dort sagten im Februar 76 Prozent der Unternehmen, dass nicht alle bestellten Waren geliefert werden konnten. Im Januar waren es noch 57 Prozent. Deutlich mehr Supermärkte als noch im Vormonat klagten über Versorgungsengpässe. Der Anteil stieg von 18 auf 61 Prozent. Angespannt bleibt die Lage bei den Händlern von Spielwaren, Fahrrädern und Automobilen. Jeweils rund 95 Prozent berichteten von Lieferproblemen. Auch im Möbelhandel hat sich die Lage wieder verschlechtert. Der Anteil stieg von 67 auf 90 Prozent.

Experten weltweit warnen angesichts der russischen Aggression außerdem vor möglichen Cyberattacken. Sollten diese zum Beispiel Containerlinien oder Häfen treffen, dürfte das weitere, monatelange Probleme in den Lieferketten mit sich bringen.

Umfrage: Folgen oft noch unklar

Wie wirken sich der Russland-Ukraine-Krieg und die damit verbundenen Sanktionen gegen Russland auf das Lager- und Transportgeschäft aus? Das fragt die DVZ seit Montagnachmittag im sozialen Netzwerk LinkedIn. Es zeigt sich, dass die Unsicherheit noch groß ist. Denn mehr als die Hälfte (53 Prozent) der bisher etwa 245 Teilnehmer sieht für ihr Geschäft zwar eine Betroffenheit, die Folgen sind aber noch unklar. Etwa jeder Zehnte hat oder erwartet kaum Einschränkungen. Fast jeder Vierte stimmt für die Antwort „starke Beeinträchtigungen“. Für „nicht relevant“ erachten die Lage 13 Prozent. (mit dpa-Material)

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