Rail Experience: Gamification statt Notizblock und Bleistift

Eine digitale Lernplattform mit Gamification-Elementen soll die Ausbildung zum Eisenbahner im Betriebsdienst attraktiver und effizienter machen. Ab dem kommenden Ausbildungsjahr soll sie allen Azubis bei Captrain Deutschland zur Verfügung stehen. 

Die digitale Lernbegleiterin Alina führt die Auszubildenden durch die Lernplattform und erklärt die verschiedenen Aufgabenstellungen. Ob man mit einem männlichen oder weiblichen Avatar spielen möchte, lässt sich zu Beginn individuell auswählen. (Visualisierung: Captrain)

Bevor Fahrzeuge bewegt werden, muss die Fahrbereitschaft festgestellt werden“, ertönt eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher des Tablets und Alina, die digitale Lernbegleiterin, erscheint auf dem Bildschirm. „Gehe hierfür um die Fahrzeuge herum und wähle bei allen Hotspots die passende Handlung.“ Drei Eisenbahnen stehen in der virtuellen Lok-Werkstatt, die sich – nach dem Anlegen der korrekten Schutzausrüstung – mit einem selbsterstellten Avatar eigenständig erkunden lässt. Wird eine Aufgabe besonders gut gemeistert, gibt es einen digitalen „goldenen Hemmschuh“ zur Belohnung.

„Rail Experience“ heißt die mobile Lernplattform des Schienenlogistikers Captrain Deutschland, die die Ausbildung angehender Eisenbahnerinnen und Eisenbahner im Betriebsdienst künftig vom ersten bis ins dritte Lehrjahr unterstützen soll. Die App basiert auf der adaptiven Lernsoftware Vita und wurde in Zusammenarbeit mit dem Mönchengladbacher Unternehmen Wegesrand entwickelt, das sich auf spielbasiertes Lernen spezialisiert hat.

Trend ins Digitale

„Angefangen hat alles 2019 mit der Idee, eine Plattform für digitales Arbeiten zu erstellen – dann kam Corona und die Ideen haben sich überschlagen“, erinnert sich der 36-jährige Michael Zal, Trainer Fach- und Trainingszentrum Betrieb bei Captrain Deutschland. „Es kam die Frage auf, wie wir künftig Auszubildende für uns gewinnen können“, ergänzt Teamleiter Mario Kopecki. „Denn wenn wir ehrlich sind: Mit einem karierten Block und Bleistift begeistern wir die jungen Leute nicht.“ Ausbildungsmaterial wie Regelwerke stehen daher bereits digital zur Verfügung statt in Papierform.

Mit Rail Experience soll der klassische Präsenzunterricht sinnvoll ergänzt werden. Zugleich wolle man die intrinsische Motivation der Azubis steigern, sich mehr mit dem Unternehmen und dem Beruf zu identifizieren und sich auch von allein zum Lernen hinzusetzen. Um das zu erleichtern, ist die App auch offline auf dem Tablet oder Smartphone verfügbar. Eine PC-Version gibt es nicht.

Die virtuelle Lok-Werkstatt gibt es auch in der Realität: Sie ist ein originaler Nachbau der Werkstatt der Captrain-Tochter ITL Eisenbahngesellschaft in Pirna. (Visualisierung: Captrain)
(Visualisierung: Captrain)

„Das ganze Thema Qualifizierung und Ausbildung in der Eisenbahnumgebung steht vor großen Herausforderungen“, weiß Henry Böhm, Bereichsleiter Sicherheit und Qualität bei Captrain Deutschland. „Es gibt den demografischen Faktor, die Erfahrungen der Babyboomer werden in den nächsten Jahren wegfallen. Zugleich müssen wir verstehen, wer eigentlich die neue Generation von Kollegen ist, die auf den Arbeitsmarkt kommt, und wie das Konzept der Ausbildung dann aussehen soll und in Zukunft überhaupt aussehen kann.“

Ziel der Lernplattform ist es, die Ausbildungsinhalte ansprechender, interaktiv und so realitätsnah wie möglich abzubilden, um sie für den Nachwuchs „griffiger zu machen“, erklärt Zal. „Die Herausforderung ist, alle unterschiedlichen Lerntypen unter einen Hut zu bringen und ihnen die Ausbildung und die App schmackhaft zu machen.“

Zudem soll die Plattform helfen, bei den Auszubildenden gewisse Automatismen aufzubauen. „Zum Beispiel was das Anlegen der Schutzausrüstung angeht. Dies lernen die heutigen Kollegen nicht mehr zwangsläufig in der Schule“, sagt Böhm. Schulungsunterlagen sind als PDF in der Anwendung verfügbar, zusätzlich gibt es die Möglichkeit, Unterlagen mit eigenen Notizen hochzuladen. Um die Identifikation mit dem Ausbildungsunternehmen zu erhöhen, enthält die App mehrere Wiedererkennungsmomente aus dem echten Leben: darunter Bilder, eine Infotafel oder einen Kalender aus dem Fach- und Trainingszentrum Betrieb (FTB) von Captrain in Dortmund.

Umsetzbarkeit versus Sicherheit

Zu den Ausbildungsinhalten des ersten Lehrjahres bietet die Plattform neben dem Erkunden der Werkstatt weitere Gamification-Elemente wie ein Rangierrätsel, ein Signalkartenspiel und das Abfragen von Signalen auf dem virtuellen Führerstand. Um den Lernerfolg zu sichern, gibt es nach jedem Modul eine sogenannte Lernerfolgskontrolle. „Dadurch, dass unsere Branche so stark reglementiert ist, war es in der Entwicklung schwierig, nicht zu weit in die Tiefe zu gehen, das wäre für so eine App auch nicht sinnvoll gewesen. Die Entwickler mussten genau verstehen können, was wir von ihnen wollen. Auf der anderen Seite dürfen wir als Eisenbahner die Sicherheit nicht außer Acht lassen“, betont der 57-jährige Kopecki. Ein Aspekt, der das ganze Thema Digitalisierung in den vergangenen Jahren herausfordernder gemacht habe, sagt Böhm.

Aktuell befindet sich Rail Experience noch in der Entwicklungs- und Testphase. „Vor wenigen Wochen haben wir das zweite Lehrjahr erfolgreich in die App eingebunden und beheben nun kleinere Fehler. In sechs bis acht Wochen soll auch das dritte Lehrjahr fertig sein, so dass wir die App im kommenden Ausbildungsjahr allen unseren Azubis zur Verfügung stellen können“, erklärt Zal. Azubis aus dem zweiten Lehrjahr nutzen die App bereits testweise.

Ausbildungszahlen erhöhen

Einer von ihnen ist Florian Kluge, ein „echter Eisenbahnromantiker“, wie Henry Böhm ihn scherzhaft nennt. „Ich habe eine ältere Schwester, die wir damals immer zum Bahnhof gefahren haben, wenn sie wieder zur Uni musste. Die vorbeifahrenden ICEs haben mich total begeistert. Schon in der fünften oder sechsten Klasse wusste ich, dass ich Eisenbahner werden will“, erzählt Kluge, der sich mittlerweile im zweiten Lehrjahr bei der Dortmunder Eisenbahn, einem Unternehmen der Captrain-Deutschland-Gruppe und der Dortmunder Hafen AG, befindet. In seiner Abschlussklasse war der gebürtige Thüringer der Einzige, der diese berufliche Richtung eingeschlagen hat.

„Den Vorteil von Apps wie Rail Experience sehe ich vor allem darin, dass man zu Hause beim Lernen zusätzlich zur Theorie noch vieles anschaulich dargestellt sieht. Zum Beispiel wenn es um das Auf- und Abrüsten eines Triebfahrzeugs geht oder wo man den Ölstand prüft, durch die reinen Infotexte hat man keine klaren Bilder vor Augen“, sagt Kluge. Schaffen könne man die Ausbildung aber auch ohne Gamification-Elemente. Der 19-Jährige sieht die Plattform vor allem als möglichen Anreiz für junge Menschen, sich für eine Ausbildung zum Eisenbahner zu entscheiden.

„Ich glaube, unsere größte Aufgabe, um die Bahn wieder attraktiv zu machen, ist es, das System Bahn und seine Komplexität, aber auch seine Möglichkeiten viel deutlicher zu beschreiben. Denn die Möglichkeiten innerhalb des Systems sind riesig“, ist Böhm überzeugt. „Wir würden uns wünschen, noch viel mehr mit kleineren Eisenbahnunternehmen in den Dialog zu gehen und über Möglichkeiten der Digitalisierung im Bereich Ausbildung zu sprechen“, sagt der 47-Jährige auch mit Blick auf Rail Experience. Die Lernplattform sei unter anderem farblich und durch die Platzierung von Firmenlogos individuell für Unternehmen anpassbar, heißt es auf der Website zur App. Die Frage, ob Rail Experience bereits außerhalb von Captrain Deutschland zum Einsatz kommt, wollte das Unternehmen jedoch nicht beantworten.

Trotz der schwierigen Nachwuchssuche ist Böhm optimistisch, was die Branche betrifft: „Ich bin davon überzeugt, dass das Thema Eisenbahn wieder der Zukunft gehört.“

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