Wie Lieferketten widerstandsfähig werden
Das Thema Resilienz erweitert die Diskussion um die wettbewerbsfähige Ausrichtung einer Lieferkette. Während Agilität den Zeitfaktor umfasst, wie schnell eine Lieferkette bei einem Ereignis insbesondere für den Empfänger wieder normal funktioniert, wird bei der Resilienz die Wirkung der Störung zusätzlich einbezogen. Entsprechend sind resiliente Lieferketten so aufgebaut, dass Ereignisse auf sie weniger starke Ausschläge bewirken und dadurch auch schneller wieder aus Sicht des Empfängers normal laufen können. Dass die Realisierung einer resilienten Lieferkette aufwendiger ist als die einer agilen, liegt aufgrund der zusätzlichen Dimension auf der Hand.
Die Zahl der Störungen ist gestiegen. Kriegerische Auseinandersetzungen, protektionistische Entscheidungen von Regierungen, Pandemien, Naturkatastrophen und andere Schocks finden nicht nur in einer höheren Frequenz statt. Auch ist die Wahrscheinlichkeit durch extrem optimierte, weit verzweigte und weltweit vernetzte Lieferketten gestiegen, dass die Ereignisse einen Effekt haben. Aus diesem Grund ist es notwendig, durch agile Ausgestaltungen nicht nur schnell reagieren zu können, sondern auch die Wirkung zu reduzieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass ein Aufschaukeln eintreten kann.
Dieses Umfeld wird gerne als VUCA-Welt bezeichnet. Sie umfasst Volatilität (Volatility), Unsicherheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity). In diesem Umfeld versuchen sich die Unternehmen so aufzustellen, dass sie ihren Wettbewerbern durch Resilienz überlegen sind.
Transparenz als Hebel
Volatilität wird gerne mit dem Bullwhip-Effekt verglichen. Bereits 1961 ist er erkannt worden, und schon damals wurde Transparenz als eine der wichtigsten Maßnahmen dagegen propagiert. Das bedeutet, dass die Akteure in einer Lieferkette enger und kooperativer zusammenarbeiten sollten. Informationen über die Situation während des Transports, die Auslastungen der Kapazitäten und die Prognosen zu teilen, unterstützt dabei, frühzeitig die richtigen Entscheidungen bei der Produktionsplanung, den Marketingaktionen und Ähnlichem zu treffen. Wenn zusätzlich auch horizontal Informationen ausgetauscht würden, wäre es sogar möglich, die bestehenden Kapazitäten besser auszulasten.
Diese Transparenz würde auch die Unsicherheit reduzieren – zumindest was die Planungen bei den Partnern und deren Erkenntnisse betrifft. Es bestehen trotzdem noch weitere Unsicherheiten: Wie kann man sich auf den Klimawandel vorbereiten, welche Innovationen sind sinnvoll, oder wann sind Investitionen in neue und alternative Technologien richtig? Resilienz kann diese Unsicherheiten nicht auflösen. Sie kann jedoch das Unternehmen und seine Lieferketten darauf vorbereiten, dass bei einer falschen Entscheidung die Auswirkung auf das Unternehmen geringer ausfallen kann. Auch hier spielt Zusammenarbeit eine wichtige Rolle. Nicht nur das Bündeln von Einkaufsvolumen kann das Risiko zu hoher Verluste reduzieren, auch das Teilen der Investitionssummen für Innovationen und digitale Lösungen ermöglicht eine Streuung des Risikos.
Überforderte Führungskräfte
Denn die Welt ist zu komplex, als dass die Probleme von einer Partei allein gelöst werden können. Klimawandel, Generationenkonflikte, politische Spannungen und vieles mehr überfordern die meisten Führungskräfte, so dass oft unfundierte, aus dem eigenen Gefühl geborene Entscheidungen getroffen werden. Gebündelte und gemeinsam initiierte Anstrengungen – selbstverständlich mit Kompromissen bei der Umsetzung – können eher zum Erfolg führen. Operative und administrative Prozesse können in diesem Zuge an Komplexität verlieren, da über deren Umsetzung und Standardisierung gemeinsam entschieden wird. Dafür ist ein hoher Steuerungsaufwand für die Veränderung in den Organisationen notwendig, denn das Management und die Beschäftigten lassen sich auf eine neue Zusammenarbeit ein.
All dies kann dazu führen, dass die Mehrdeutigkeit reduziert werden kann. Denn die Analyse eines Problems aus mehreren Perspektiven kann zu unterschiedlichen Interpretationen führen, wenn nicht bekannt ist, welche Informationen, Voraussetzungen und Maßgaben jeweils vorliegen. Nicht nur der Vertrieb, die Produktion und die Beschaffung verfolgen unterschiedliche Ziele und haben verschiedene Zielgrößen zu erreichen. Auch die einzelnen Unternehmen haben eigene Strategien definiert, die voneinander abweichen können. Aber alle Parteien haben ein Ziel, ohne es formuliert oder in ihren Vereinbarungen festgehalten zu haben: die maximale Zufriedenstellung der Kundschaft. Jede setzt jedoch andere Kenngrößen für ihren eigenen Bereich. Mit diesem Ansatz ist es nicht möglich, resilient zu werden und in der VUCA-Welt erfolgreich zu sein.
Starten mit „Quick Wins“
Als Zielsetzung der Resilienz sollte die störungsfreie Navigation durch die VUCA-Welt im Mittelpunkt stehen. Entsprechend sollte zuvorderst ein gemeinsames Ziel definiert und ein Plan entwickelt werden, wie das Projekt realisiert werden soll. Ratsam ist es, wie auch bei der Diskussion um das Supply Chain Management, schrittweise und mit „Quick Wins“ im Kleinen zu starten, um die Führungskräfte, die Kooperationspartner generell und auch die Belegschaft insgesamt für weitere Schritte zu gewinnen.
Um die Volatilität in den Griff zu bekommen und die Unsicherheit zu reduzieren, ist wie erläutert Transparenz notwendig. Dafür sind Identifikationspunkte eng entlang der Lieferkette zu planen. An diesen Punkten sollten außer Daten für die Sendungsverfolgung Informationen über Kapazitätsverfügbarkeiten und Bestandsmengen aufgenommen werden. Weiterhin ist ein Abgleich über die Prognosen, deren Annahmen und Informationsbasis anzuraten, damit ähnliche Planungsdaten als Grundlage vorliegen. Damit werden unterschiedliche Interpretationen und Definitionen verhindert, was zu einer eindeutigen Schlussfolgerung aus der Analyse der Daten führen sollte.
Dabei sollte wiederum verhindert werden, dass alle Informationen allen Unternehmen zur Verfügung stehen. Nicht nur dass die Gefahr des Verlusts von Wettbewerbsvorteilen besteht – ein schwieriger Balanceakt –, auch können zu viele Informationen die Komplexität wiederum steigern. Ob nun ein Intermediär eingeschaltet wird (in diesem Kontext wird oft ein 4PL erwähnt, es kann aber auch beispielsweise eine wissenschaftliche Einrichtung sein), der die Informationen als neutraler Partner konsolidiert und nach Relevanz beziehungsweise geringer Kritikalität weitergibt, oder sich die Unternehmen in einer Lieferkette auf die notwendigen Informationen einigen, die zentral oder dezentral zur Verfügung gestellt werden, ist fallweise zu entscheiden. Klarzustellen ist, dass zur Realisierung der Resilienz jedes Unternehmen in der Lieferkette selbst verantwortlich ist. Dies muss jedem Unternehmen klar sein und bildet eine Grundvoraussetzung für eine insgesamt widerstandfähige Lieferkette: Resilienz lässt sich nur gemeinsam realisieren, ein „Blame Game“ ist nicht zielführend.
Weiche Faktoren
Bei der erwähnten und empfohlenen schrittweisen Vorgehensweise ist in diesem Zuge zu verhindern, dass eine Entwicklung wie bei IT-Landschaften in manchen Unternehmen eintritt: Die Einführung eines PC zur Vereinfachung der Lohnabrechnung führte oft zu einem Wirrwarr an unterschiedlichsten Hard- und Softwarelösungen, die nach und nach hinzukamen und die IT unübersichtlich machten.
Und zu guter Letzt sind weiche Faktoren gefordert: der Wille zur Kooperation, zur Offenheit und zur Veränderung. Dies bedeutet, dass Resilienz in einer Lieferkette nur dann realisiert werden kann, wenn auch ein Kulturwandel hin zu einem gemeinsamen Ziel über Unternehmensgrenzen und Generationen hinweg geschafft wird. Das kann nicht sofort geschehen, das benötigt Zeit – und kleine Schritte. Dass dies eine ideale Welt beschreibt, liegt auf der Hand. Aus diesem Grund ist der Aufbau einer resilienten Lieferkette nur so weit möglich, wie die Unternehmen aufeinander zugehen, Projekte gemeinsam anschieben und den langen Atem haben, diese nur evolutionär umsetzbare Lösung anzugehen. (rok)
Christian Kille ist Professor an der Technischen Hochschule Würzburg-Schweinfurt