Kühne + Nagel-Chef: „Der zufriedene Kunde ist bereit, einen höheren Preis zu zahlen“
Stefan Paul hat Kühne + Nagel in einer herausfordernden Zeit übernommen. Die zweijährige Corona-Sonderkonjunktur wurde fast nahtlos von den Auswirkungen des Ukraine-Krieges abgelöst. Doch das macht dem 54-Jährigen, der seit gut einem Jahr als CEO an der Spitze des Speditionskonzerns steht, überhaupt nicht Bange. Im Gegenteil, in der im Frühjahr verabschiedeten Roadmap 2026 sind ehrgeizige Ziele festgeschrieben. Wie Paul sie erreichen will, skizziert er im Gespräch mit der DVZ.
DVZ: Herr Paul, Sie sind seit rund einem Jahr CEO von Kühne + Nagel. Wie bequem ist denn der Chefsessel in Schindellegi?
Stefan Paul: Ich fühle mich sehr wohl… Aber ich bin ja auch schon zehn Jahre in der Geschäftsleitung von Kühne + Nagel und kenne somit das Umfeld und die Kultur. Natürlich muss man sich mit anderen Themen beschäftigen, als wenn man nur für eine Business Unit zuständig ist. Und es ist schon eine Herausforderung, das Unternehmen auf die Zukunft einzustellen – gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem die durch die Pandemie ausgelöste Sonderkonjunktur zum Ende kommt.
Was machen Sie denn anders als Ihr Vorgänger Detlef Trefzger?
Detlef Trefzger hat mir ein sehr erfolgreiches Unternehmen übergeben. Somit muss ich nicht grundlegend Dinge anders machen, jedoch lege ich meinen Schwerpunkt, und das sehen Sie auch in meiner Vita, sehr stark auf die Kundenorientierung. Da war es von Anfang an klar, dass ich die Organisation in ihren Prozessen auf organisches Wachstum und eben auf die Kunden ausrichten möchte.
Woher kommt Ihre Kundenorientierung – ist das Ihre persönliche DNA oder auch ein Stück weit durch die aktuelle Gemengelage ausgelöst?
Seit Beginn meiner Karriere hat mich der Gedanke angetrieben, wie man dem Kunden ein zusätzliches Wertversprechen geben kann – über Qualität, Prozesse und Produkte. Das war immer schon mein Ansatz und gilt somit auch für unsere künftige Ausrichtung. Es geht darum, unabhängig von geopolitischen Themen immer das Gespür dafür zu haben, was der Kunde nachfragt und nachfragen wird. Nehmen wir das Beispiel der erneuerbaren Energien: Vor fünf Jahren hat kaum jemand darüber gesprochen, und es ist heute ein riesiger Markt. Bei Pharma war es vor zehn Jahren genauso. Und dann gibt es Veränderungen beispielsweise durch die Diversifizierung, Sureshoring und dadurch entstehende neue Regionen. Solche Entwicklungen müssen wir immer im Auge haben.
Welche Veränderungen stellen Sie denn fest, vielleicht auch aufgrund des veränderten politischen Umfelds?
Früher haben wir uns hauptsächlich auf europäische und amerikanische Kunden konzentriert – dort wurde über die globalen Geschäfte entschieden. Asien wurde dagegen eher als Teil des Netzwerks genutzt. Heute agieren wir auch im Vertrieb viel stärker in Asien und weiteren neuen Märkten – dort sitzen viel mehr Entscheidungsträger für die Ladungsströme als früher.
Macht es das nicht schwieriger? In China und anderen Ländern ist die Wirtschaft doch sehr viel stärker politisch gelenkt als zum Beispiel in Westeuropa oder den USA.
Nein. Die Frage ist eher, wie man mit diesen neuen Playern interagiert. Es gibt in Asien viele junge, sehr schnell wachsende Unternehmen. Nehmen wir den Energiesektor: Dort haben wir es zwar mit sehr großen und hoch bewerteten Firmen zu tun, die aber nicht unbedingt bei uns kreditversichert sind. Da müssen wir andere Logiken für die Risikobewertung ansetzen, als wir das seit Jahrzehnten in Europa oder den USA getan haben.
Wie schauen Sie konkret auf das Reich der Mitte angesichts der De-Coupling-Diskussion und der Frage, ob das Land noch die Wachstumslokomotive sein kann?
In der Öffentlichkeit liest man zwar viel Negatives über China, aber wir haben dort ein unverändert großes Geschäft, und man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig der Markt ist. China wächst ja immer noch, wenn auch nicht mehr ganz so schnell. Wir sehen derzeit eine erhebliche Anzahl von neuen Start-ups, gerade im Bereich E-Commerce, die große Volumina Richtung Europa und in die USA verladen. Natürlich ist seit einigen Jahren zu beobachten, dass sich große Produzenten auch ein, zwei weitere Standorte außerhalb Chinas suchen, um Risiken zu minimieren. Aber ich denke nicht, dass signifikant Produktion aus China abwandert. Mit der besten Infrastruktur in Asien hat China einen klaren Vorteil.
Wie wichtig ist China konkret für Kühne + Nagel?
Mittlerweile stammt etwa ein Drittel unseres Ergebnisses aus Asien, und da hat China natürlich einen relativ hohen Anteil, mehr als 50 Prozent.
Und welche asiatischen Länder könnten von der angestrebten Risikominimierung von Industrie und Handel insbesondere profitieren?
Vor allem Vietnam und Indien, aber auch Indonesien, Thailand und Malaysia. So ist Vietnam in der Pandemie der Markt außerhalb Chinas, der am stärksten gewachsen ist. Und in Nordamerika gibt es eine gewisse Verlagerung nach Mexiko.
Wie reagieren Sie?
Da wir als 3PL keine eigenen Assets haben, vor allem über das Personal. Wir stärken den Vertrieb und das gewerbliche Personal in der Kontraktlogistik. Und wenn wir merken, dass wir in einzelnen Märkten schwächer aufgestellt sind, mit lokalen Akquisitionen. Das machen wir seit vielen Jahren so und werden wir auch künftig so machen.
China wächst immer noch. Man sollte nicht unterschätzen, wie wichtig der Markt ist.
Wo haben Sie denn Schwächen?
Lassen Sie mich das am Beispiel E-Commerce erklären. In der Kontraktlogistik für Großkunden mit exklusiven Standorten sind wir sehr gut aufgestellt. Besser werden können wir im Omnichannel-Fulfillment für mittelständische Kunden. Da geht es darum, über See einkommende Waren anzunehmen, in einem Multi-User-Lager zwischenzulagern, zu kommissionieren und dann auf der letzten Meile zum jeweiligen Endkunden zu bringen. Immer mehr E-Commerce-Anbieter fragen nach integrierten Lösungen für ihre Waren, die auf neuen Vertriebskanälen in die Märkte gehen. Da investieren wir jetzt stärker in das Know-how und in Technologie, aber auch in Kapazitäten.
Ist das auch ein Bereich, wo Sie über M&A wachsen könnten?
Ja, wir schauen uns das im Speziellen an. Dort sprechen wir jedoch nicht über kleine Start-ups, sondern über Unternehmen, die schnell skalierbar sind. Der Fokus liegt auf Europa und Nordamerika.
Haben Sie etwas in der Pipeline?
Wir haben immer eine gut gefüllte Pipeline. Aber wir kommunizieren wie bisher erst dann, wenn ein Deal unterschrieben ist.
Ein Kern Ihrer im März veröffentlichten Roadmap 2026 sind sehr ambitionierte Margenziele. Sie sprechen da von einer Conversion Rate – Rohertrag zu EBIT – von 25 bis 30 Prozent, das ist fast das Niveau wie während der Corona-Sonderkonjunktur. Was sind denn da Ihre Hebel?
In unserer Roadmap 2026 haben wir vier Eckpfeiler definiert: Kunden- und Mitarbeiterorientierung, digitale Transformation, Marktwachstum und Nachhaltigkeit. Diese Elemente sind verknüpft zu betrachten. Grundsätzlich haben wir zwei Hebel: den Bruttonutzen pro Einheit und die Effizienz, also die Kostenstruktur. Der Pfeiler Kunde und Mitarbeiter steht dabei an erster Stelle: Wenn wir eine hohe Qualität und damit eine hohe Kundenzufriedenheit sicherstellen, dann bleibt der Kunde nicht nur bei uns, sondern ist in der Regel bereit, einen höheren Preis zu zahlen. Und die Kosten adressieren wir unter anderem mit einem neuen digitalen Eco-System.
Was verbirgt sich dahinter?
Wir haben in der digitalen Entwicklung in den vergangenen Jahren viel selbst gemacht – Infrastruktur, Hosting, Datenmanagement und -verwaltung. Dies alles haben wir bisher auf einer sogenannten On-Prem-Basis gemanagt; das verschieben wir jetzt in die Cloud und damit auf eine einheitliche Datenplattform. Die verschiedenen TMS hingegen werden wir auch künftig selbst entwickeln. Da wollen wir unabhängig und flexibel bleiben.
Welches Ziel verfolgen Sie damit?
Mit dieser Migration wollen wir nicht nur unsere Effektivität steigern, sondern beabsichtigen, unseren Kunden neue, datengetriebene Mehrwertdienste anzubieten. So automatisieren wir über die Cloud die manuellen Prozesse im Customer Service nahezu vollständig. Der Kunde erhält schneller eine bessere und konkretere Information, und intern reduzieren wir unsere Komplexität.
Wird es denn auch Services geben, für die Kunden möglicherweise sogar extra zahlen?
Absolut. Ein Beispiel: Heute wird im Mittelstand noch wenig über Nachhaltigkeitsziele gesprochen. Das ändert sich. Dann kann es von Interesse sein, auf Knopfdruck den CO2-Abdruck einer Sendung oder einen Vorschlag für eine umweltfreundlichere Transportlösung oder Route zu erhalten. All das möchten wir auf einer Technologieplattform anbieten und entsprechend monetarisieren – als Ergänzung zum eigentlichen Transportauftrag.
Aber noch einmal gefragt: Welches ist der wichtigste Hebel bezogen auf die Marge?
Den größten Einfluss wird tatsächlich das Thema Servicequalität und -versprechen gegenüber dem Kunden haben, darauf dürften bis 2026 bis zu 40 Prozent entfallen. Darauf werden wir im Management einen klaren Fokus setzen. Dazu kommen Themen wie Marktwachstum, zum Beispiel in den erneuerbaren Energien, oder die Digitalisierung unserer IT-Landschaft. Der Rest kommt durch anorganisches Wachstum.
Wo sehen Sie denn die künstliche Intelligenz in Zukunft?
Das ist die Königsfrage…
…und wir hätten gern die Königsantwort…
Sie wird in den nächsten Jahren eine extrem große Rolle spielen. Dafür müssen wir als Industrie und als Unternehmen erst die Voraussetzungen schaffen. Wir brauchen alle Daten in einem Pool. Die KI hilft nur, wenn einheitliche Datenquellen angezapft werden können. Das tun wir mit dem beschriebenen Eco-System. Darauf können wir dann die KI aufbauen. Das heißt, dass wir viel proaktiver mit unseren Daten umgehen und dem Kunden sagen können, wie seine Supply Chain wie verbessert und flexibel auf Marktveränderungen angepasst werden kann. Das gibt es heute teilweise schon für die Großkunden, aber nicht unbedingt für die mittelständischen Kunden.
Angesichts dieser Bedeutung der Transformation stocken Sie auch personell auf.
Richtig, dazu haben wir die Position eines Leiters digitale Transformation geschaffen. Diese Aufgabe wird vom 1. Oktober an Niklas Sundberg übernehmen, der von dem schwedischen Unternehmen Assa Abloy zu uns wechseln wird. Wir beschäftigen uns proaktiv mit KI und warten nicht, bis es jemand anders macht.
Herr Paul, vielen Dank für das Gespräch.
Dieser Artikel ist erstmals am 26. September 2023 auf DVZ.de erschienen. Wir wiederholen den Beitrag anlässlich des Deutschen Logistik-Kongresses in Berlin. Dort wird Stefan Paul am Donnerstagmorgen zum Thema „Stand der Logistik 2023: Von persönlichen Netzwerken bis zur Cloud“ sprechen.